Der Code des Lebens

Der Code des Lebens

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Johanna Stegmann: Die Tage werden kürzer. Draußen ist es grau und viele von uns spüren, wie das Energielevel sinkt. Spätestens jetzt denken viele an Vitamin D. Heute habe ich Prof. Dr. Carsten Carlberg zu Gast. Er ist Biochemiker und Professor an der Universität Ostfinnland und leitet in Polen einen ERA-Chair zu Nutrigenomics. Mit ihm spreche ich darüber, warum Vitamin D so wichtig für unser Immunsystem ist, welche Rolle die Epigenetik dabei spielt und wie viel wir eigentlich brauchen. Ihr hört den Code des Lebens. Mein Name ist Johanna Stegmann und ich spreche hier jeden Monat mit spannenden Gästen über Themen rund um die Humangenetik. Als erstes wollte ich von Carsten Carlberg wissen, was genau eigentlich Vitamin D ist. Dafür reisen wir rund 100 Jahre zurück in die Vergangenheit.

Dr. Carsten Carlberg: Also man wollte vorauskriegen, woran liegt es, dass Menschen Rachitis bekommen und die Substanz, die diese Rachitis verhindern kann, das war das Vitamin D. Und da es das vierte aller Vitamine war, die entdeckt worden sind, kriegte erst den vierten Buchstaben des Alphabetes. Deswegen Vitamin D.

Johanna Stegmann: Rachitis ist eine Knochenkrankheit, die insbesondere bei Kindern vorkommen kann. Durch einen Mangel an Vitamin D werden die Knochen nicht richtig mineralisiert und bleiben weich. Vitamin D spielt nämlich eine Schlüsselrolle im Knochenstoffwechsel. Es sorgt dafür, dass Calcium und Phosphat aus der Nahrung aufgenommen und in die Knochen eingebaut werden. Und das ist noch nicht alles. Vitamin D steuert auch viele andere Prozesse in unserem Körper. Von der Bildung bestimmter Proteine bis hin zur Aktivierung von Genen. Ein Mangel kann daher nicht nur zu Rachitis oder später zu Osteoporose führen, sondern wird auch mit anderen Erkrankungen in Verbindung gebracht.

Dr. Carsten Carlberg: Es gibt verschiedene Formen von Vitamin D. Vitamin D 1, 2, 3, 4 und so weiter. Und da hat sich rausgestellt, dass das, was wir als Menschen machen, auch Tiere machen, ist Vitamin D 3. Pflanzen und Pilze können, wenn sie UV bestrahlt werden, Vitamin D 2 machen. Auch das können wir als Menschen nutzen und das hat etwa die gleiche Wirkung.

Johanna Stegmann: Vielleicht ist euch Vitamin D schon mal in der Drogerie begegnet. Meistens steht da Vitamin D 3 auf den Verpackungen. Das ist aber noch nicht die aktive Form. Unser Körper muss es erst umbauen. Und das Spannende ist, anders als bei den meisten Vitaminen, können wir Vitamin D sogar selbst herstellen, sobald Sonnenlicht auf unsere Haut trifft. Ein bisschen so, als hätten wir eine eingebaute kleine Solaranlage. Weil wir Vitamin D selbst herstellen können, sprechen Fachleute auch oft vom Prohormon Vitamin D. Also einem Stoff, der im Körper weiterverarbeitet wird und dann hormonähnliche Wirkungen entfaltet.

Dr. Carsten Carlberg: Wir haben Vitamin D 25-Hydroxyvitamin D. Das ist das, was wir im Blut herumschwimmen haben und auch unser biologischer Marker für Vitamin D ist, unser Vitamin D Status. Und die biologisch aktive Form ist das 1-25-D-Hydroxyvitamin D 3. Und dieses Molekül ist die biologisch aktive Form von Vitamin D und das kann man vergleichen mit Östrogenen, Testosteron, Cortisol. Und es hat auch von der Struktur Ähnlichkeit, weil, alle diese Moleküle stammen letztendlich von Cholesterin ab.

Johanna Stegmann: Der Einfachheit halber sprechen wir in der Folge von Vitamin D. Gemeint es dabei aber immer Vitamin D 3. Aber wie können wir eigentlich selbst Vitamin D herstellen? Dafür braucht unser Körper UV-Strahlen, zum Beispiel von der Sonne.

Dr. Carsten Carlberg: Das ist ein Molekül, das ist die letzte Vorstufe, um Cholesterin herzustellen, das heißt 7-Hydroxy-Cholesterin. Und dieses Molekül, wenn das in der Haut vorkommt und es kommt in der Haut vor, kann anstatt in Cholesterin umgesetzt zu werden, in Vitamin D umgesetzt werden. Und das passiert mit der Hilfe von UV-Strahlung, das heißt dem UV-Anteil des Sonnenlichtes. Und da muss man bedenken, ursprünglich stammen wir alle aus Ostafrika, da hatten wir mit Sonne überhaupt kein Thema und wir waren auch wesentlich draußen. Und deswegen zu der Zeit, wo der moderne Mensch entstanden ist und auch 200.000 Jahre sich bewegt hat in Ostafrika war Vitamin D sicherlich kein Vitamin, sondern einfach eine Substanz, die natürlich jeden Tag entstanden ist. Und ein Vitamin ist dieses Vitamin D erst dann geworden, als wir als Menschen entschieden haben, wir ziehen weiter nach Norden, wo dann zumindest im Winter nicht mehr ausreichend UV in der Sonne an Strahlung drin ist, dass wir selber Vitamin D machen können.

Johanna Stegmann: Was heißt das denn jetzt konkret, wie viel Sonne oder UV-Licht brauchen wir eigentlich, um genug Vitamin D zu produzieren?

Dr. Carsten Carlberg: Wenn wir unsere Haut wirklich der Sonne jeden Tag für 15 bis 20 Minuten aussetzen, dann machen wir ausreichend Vitamin D und natürlich eher in der Mittagszeit und nicht die Abendsonne. Abendsonne hat wiederum deutlich weniger UV-Anteil.

Johanna Stegmann: Unser Körper ist also ziemlich effizient. Rund 80 bis 90 Prozent unseres Vitamin D bildet er selbst direkt in der Haut, mithilfe von Sonnenlicht. Wichtig dabei ist, das klappt nur mit UVB-Strahlung und die kommt nicht durch Fensterscheiben. Drinnen am sonnigen Schreibtisch sitzen zählt also nicht. In Deutschland reicht es normalerweise von etwa Mai bis August, wenn wir jeden Tag etwa ein Viertel unserer Haut, also zum Beispiel Gesicht, Hände und ein Stück von Armen oder Beinen, zwischen 12 und 15 Uhr der Sonne aussetzen. Je nach Haut-Typ können dafür schon 5 bis 25 Minuten reichen. Ein wichtiger Hinweis, Sonnencreme blockiert natürlich die Vitamin D-Produktion. Trotzdem ist Sonnencreme total wichtig, um Hautkrebs zu vermeiden. Es geht also darum, ein gutes Gleichgewicht zu finden. In der dunkleren Jahreszeit klappt die Vitamin D-Bildung über die Sonne dann nicht mehr so gut.

Dr. Carsten Carlberg: Wenn man nördlich von Malta lebt und das ist eigentlich ganz Europa, sollte man im Winter Vitamin D supplementieren. Die Monate, die ein R enthalten, vom September bis April, in diesen Monaten sollte man Vitamin D supplementieren und dann die verbleibenden Monate, hoffentlich ist es dann warm genug, geht man nach draußen.

Johanna Stegmann: Wenn die Sonne nicht reicht, können wir Vitamin D auch über Supplemente aufnehmen. Die deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt das aktuell aber nur, wenn ein nachgewiesener Mangel vorlegt oder die Versorgung anders nicht möglich ist. Aber wie sieht es eigentlich mit der Ernährung aus? Könnten wir nicht einfach den ganzen Tag Pilze, Eier oder fetten Fisch essen und werden dann ausreichend versorgt? Immerhin enthalten diese Lebensmittel ja Vitamin D.

Dr. Carsten Carlberg: Nein, also einmal müssen diese Pilze viel UV gesehen haben. Also wenn sie im Keller, im Dunkeln gewachsen sind, so wie Champignons, dann geht das gar nicht. Und früher gab es ja den Lebertran, den gibt es heute immer noch, soll scheußlich schmecken. Aber früher haben Kinder Lebertran bekommen, weil, bei Fischen sammeln sich fettreiche Substanzen in der Leber an.

Johanna Stegmann: Und jetzt wird es richtig spannend. Es gibt eine Nahrungskette, die am Ende dafür sorgt, dass wir Menschen in den Genuss von Lebertran kommen. Ganz vorne in dieser Kette steht das Plankton mit einer ganz besonderen Fähigkeit. Es kann selbst Vitamin D produzieren.

Dr. Carsten Carlberg: Und dieses Plankton, das Phytoplankton, der macht jede Menge Vitamin D. Er kann Cholesterin herstellen und weil er Cholesterin herstellen kann, hat er auch die Vorstufe und im Meer ist halt sehr viel Licht und UV. Und dann machen die jede Menge Vitamin D. Also Phytoplankton enthält Vitamin D. Kleinfische essen das Phytoplankton, die großen Fische essen die kleinen Fische. Und so sammelt sich das Vitamin D an. Und deswegen ist im Lebertran eine erhebliche Menge von Vitamin D enthalten. Und deswegen war das früher die Art und Weise, die Leute mit Vitamin D zu behandeln oder in die Höhensonne zu gehen. Vitamin D ist protektiv gegen Tuberkulose. UV-Bestrahlung im Gebirge, die ist stärker als auf Meereshöhe. Und in dem Fall, weil, Tuberkulose ist eine bakterielle Erkrankung, macht das das Immunsystem effizienter, das sogenannte angeborene Immunsystem, die Tuberkulose Bakterien zu bekämpfen. Da müssen die Makrophagen so richtig überzeugt werden, diese Bakterien aufzunehmen und auch wirklich abzutöten. Und das ist das, was Vitamin D unter anderem macht.

Johanna Stegmann: Bevor wir uns anschauen, welche Rolle Vitamin D fürs Immunsystem spielt, werfen wir einen Blick auf die Menschen, die besonders gefährdet sind, einen Mangel zu entwickeln. Ein Vitamin D-Mangel bedeutet, dass über eine längere Zeit zu wenig Vitamin D im Körper vorhanden ist, mit teils ernsthaften Folgen. Besonders gefährdet sind Menschen, die selten draußen sind, die mobilitätseingeschränkt sind, chronisch kranke Menschen oder Ältere und auch Personen mit einer dunkleren Hautfarbe. Für Säuglinge wird empfohlen, Vitamin D zu supplementieren, um Rachitis vorzubeugen und das Knochenwachstum zu sichern. Bei Erwachsenen kann einen Mangel zu weichen Knochen, Schmerzen, Muskelschwäche führen und später im Leben Osteoporose begünstigen, bei der die Knochen an Stabilität verlieren und leichter brechen. Wichtig dabei ist zu berücksichtigen, dass die Vitamin D-Werte je nach Jahreszeit schwanken. Also ein einmalig gemessener niedriger Wert bedeutet nicht automatisch, dass schon ein echter Mangel vorlegt. Wie viel Vitamin D wir bilden können, hängt von vielen Faktoren ab, vom Wetter, von der Sonnenscheindauer, der Luftverschmutzung oder der Höhenlage, aber auch von persönlichen Faktoren wie Alter, Hautfarbe, Körpergewicht, unserem Lebensstil, Sonnenschutzverhalten oder sogar Kleidungsgewohnheiten, wenn der Körper weitestgehend bedeckt ist.

Dr. Carsten Carlberg: Was wir festgestellt haben, ist, dass Menschen unterschiedliche Reaktionen auf Vitamin D zeigen. Wir nennen das ein Responseindex. Es gibt also Leute, die Hochresponder sind, mittlere Responder und geringe Responder. Und diese gering reagierenden Menschen, wenn du denen die normale Vitamin D-Dosis gibst, machen die eigentlich nichts. Da reagiert das Immunsystem nicht drauf. Die sind natürlich dann unter Gefahr, wenn sie nur den Standard-Empfehlungen folgen, wie viel Vitamin D man nehmen sollte. Und die sind in den meisten europäischen Ländern sehr, sehr niedrig. Teilweise aus gutem Grund, aber eigentlich ist es aus meiner Sicht viel zu gering, was angeraten wird.

Johanna Stegmann: Also, manche Menschen reagieren stark auf Vitamin D, andere kaum. Und bei denen reicht die Standarddosis oft nicht aus.

Dr. Carsten Carlberg: Wenn die diese normalen Dosen nehmen, dann sind die unterversorgt. Und das ist nicht am Spiegel zu messen, sondern die Menschen haben einfach eine geringere Reaktion auf Vitamin D. D.h. man muss denen mehr geben, damit da eine entsprechend vernünftige normale Reaktion passiert.

Johanna Stegmann: Man kann ja den Vitamin D-Spiegel im Blut messen. Das allein sagt aber noch nicht unbedingt etwas darüber aus, ob jemand ein High oder Low Responder ist. Also, ob jemand stark oder schwach darauf reagiert. Ist das richtig?

Dr. Carsten Carlberg: Es gibt zwei Messmethoden und zwei Messgrößen. Entweder drückt man das in Nanomolar aus, dann sollten das 75 Nanomolar sein oder in Nanogramm, das sollten dann 30 Nanogramm pro Milliliter sein. Und in beiden Messgrößen, wenn man dann drüber liegt, ist man schon mal ganz okay. Es kann aber trotzdem sein, dass man ein Low Responder ist und das reicht dann nicht, was man dann täglich zu sich nimmt. Diese Leute sind dann meistens, wenn man ihnen Vitamin D gibt, dass dann der Vitamin D-Spiegel nicht so stark ansteigt wie bei einem High Responder. Also, die Dinge sind schon ein bisschen gekoppelt, aber man kann es nicht allein am Vitamin D-Spiegel ablesen.

Johanna Stegmann: Auch wenn die meisten Erwachsenen in Deutschland keinen akuten Vitamin D-Mangel haben, zeigt eine Studie von 2008 bis 2011: Fast 60 Prozent erreichen nicht die empfohlene Blutkonzentration. Konkret hatten 15 Prozent der Erwachsenen einen klaren Mangel, 41 Prozent waren nur suboptimal versorgt und 44 Prozent hatten ausreichend Vitamin D. Bei Kindern und Jugendlichen zeigt eine Erhebung von 2003 bis 2006, dass etwa 46 Prozent nicht den optimalen Wert erreichen. Wichtig zu wissen, die Werte stammen aus einmaligen Blutproben. Der Spiegel schwankt saisonal. Ein niedriger Wert bedeutet also nicht automatisch, dass Krankheiten auftreten.

Dr. Carsten Carlberg: Und deswegen ist meine Empfehlung, dass jeder davon ausgehen sollte, er ist ein Low Responder und dann die Menge nehmen, die ich am Low Responder rate. Und das sind 40 internationale Einheiten pro Kilogramm Körpergewicht. Also ein 100 Kilo Mann sollte 4.000 internationale Einheiten nehmen pro Tag, aber bitte nicht mehr in den entsprechenden Monaten. Auf gar keinen Fall überdosieren. Also wenn ich 4.000 sage, dann schlagen vielleicht einige die Hände über den Kopf zu sagen, das ist fünfmal mehr als die offizielle Empfehlung, die liegt bei 800 bis 1.000 Einheiten. Aber es ist, aus meiner Sicht, nicht notwendig, dass du jetzt alle drei Monate den Vitamin D Spiegel misst. Sondern so, dass man einmal eine grundsätzliche Idee hat, wo lieg ich da und lieg ich da richtig oder verkehrt. Also wenn du jetzt so am Ende des Winters oder im Prinzip viele Monate keine natürliche Möglichkeit gehabt hast, Vitamin D zu machen, wenn du dann immer noch einen vernünftigen Spiegel hast, dann machst du die Dinge anscheinend richtig. Also ich würde das Vitamin D, meinetwegen Anfang März, messen, um zu sehen, wo steht man. Natürlich unter der Prämisse, dass man nicht auf Gran Canaria oder sonst wo in sonnigen Gefilden war.

Johanna Stegmann: Die deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt Erwachsenen 20 Mikrogramm Vitamin D pro Tag. Das sind 800 internationale Einheiten. Diese Empfehlung gilt pauschal für alle, unabhängig vom Körpergewicht. Und zwar nur dann, wenn wir nicht genug Sonne bekommen, also vor allem in den Wintermonaten oder wenn man wenig draußen ist. Ähnlich sind auch die Empfehlungen in den meisten anderen europäischen Ländern. Allerdings zeigen Studien, zum Beispiel eine Studie aus den USA mit über 16.000 Proband:innen, dass die Aufnahme und Wirkung von Vitamin D auch vom Körpergewicht abhängen kann. Menschen mit Übergewicht oder Adipositas hatten in der Studie niedrigere Ausgangswerte für verschiedene Vitamin D Biomarker und reagierten weniger stark auf die Supplementierung. Bei höherem Körpergewicht kann der Körper also weniger von der gleichen Dosis profitieren. Daher könnte es sinnvoll sein, die Dosierung individuell abstimmen zu lassen. Carsten Carlberg geht genau diesen individuellen Weg. Er orientiert sich am Körpergewicht und empfiehlt 40 internationale Einheiten pro Kilogramm Körpergewicht. Damit liegt seine Empfehlung über dem Standardwert, bleibt aber noch innerhalb der von der europäischen Lebensmittelbehörde EFSA, als sichere Höchstgrenze deklarierte 4000 internationale Einheiten. Das führt mich zu der Frage, kann man sich bei Vitamin D eigentlich auch überdosieren? Und falls ja, was passiert dann eigentlich im Körper?

Dr. Carsten Carlberg: Ja, man könnte am Ende eine Hyperkalzämie haben, wenn man es richtig übertreibt über Wochen und Monate. Das wird man merken. Da passiert teilweise ein Hype und das ist leider, leider so, Leute wollen Seiten vollkriegen in irgendwelchen Magazinen und die einen schreiben Vitamin D ist super und die anderen schreiben passt bloß auf, nicht zu viel zu nehmen. Es ist ganz bestimmt keine Superpille.

Johanna Stegmann: Wirklich problematisch wird es, wenn man über Wochen oder Monate extrem hohe Mengen Vitamin D über Supplemente oder angereicherte Lebensmittel zu sich nimmt. Dann kann es zu einer sogenannten Hyperkalzämie kommen, also zu einem zu hohen Kalziumspiegel im Blut. Und das kann der Körper merken. Übelkeit, Appetitlosigkeit, Bauchkrämpfe, Erbrechen. Im schlimmsten Fall kann es aber auch zu Nieren-Schäden, Herzrhythmusstörung oder Bewusstlosigkeit kommen. Über die Sonne oder normale Ernährung ist eine Überdosierung praktisch ausgeschlossen. Das passiert nur, wenn man es mit den Supplementen übertreibt. Aber in manchen medizinischen Fällen können höhere Dosierungen ärztlich sinnvoll sein. Dazu später mehr. Jetzt hört man ja oft, dass Vitamin D im Körper gespeichert werden kann. Könnte man im Winter dann nicht einfach auf seinen Speicher zurückgreifen?

Dr. Carsten Carlberg: Rein theoretisch ja, nur wenn man sich das genauer anguckt und sieht, wie schnell der Vitamin D-Spiegel sinkt, wenn du jemanden kein Vitamin D gibst, dann ist da nicht viel mit Speichern. Wir machen so Langzeitstudien mit Leuten, die Vitamin D von uns bekommen. Da ist nicht viel Speicherkapazität. Also ich will das nicht diskreditieren, nur die Speicherkapazität wird überschätzt.

Johanna Stegmann: Der Aufbau eines ausreichenden Vitamin D-Speichers ist also gar nicht so einfach und kann durch viele Faktoren erschwert werden. Dazu gehören äußere Einflüsse wie Wetter, Wolken, Luftverschmutzung oder die Höhe, in der man lebt. Aber auch persönliche Faktoren spielen eine große Rolle, zum Beispiel Alter, Hautfarbe, Körpergewicht, unser Lebensstil und wie viel Zeit wir draußen verbringen. Wer sich viel drin aufhält, viel Kleidung trägt oder konsequent Sonnenschutz nutzt, produziert automatisch weniger Vitamin D und kann daher nur begrenzt Reserven aufbauen. Es gibt spannende Studien, die untersucht haben, ob Vitamin D auch bei Erkrankungen wie zum Beispiel Krebs oder Multiple Sklerose eine Rolle spielen könnten. Zum Beispiel hat das Deutsche Krebsforschungszentrum untersucht, wie sich eine tägliche Einnahme von Vitamin D auf Krebspatient:innen auswirkt. Sie haben über längere Zeit verfolgt, wer regelmäßig Vitamin D eingenommen hat und die Ergebnisse sind echt interessant. Die Sterblichkeit war bei denen, die supplementiert haben, geringer. Die Vermutung ist, dass Vitamin D dabei hilft, das Zellwachstum zu steuern und das Immunsystem zu regulieren, sodass es einen schützenden Effekt auf die Tumorzellen hat. Und auch bei Multiple Sklerose gibt es Hinweise auf einen Nutzen. In einer Studie mit 303 Proband:innen, die ein Frühstadium der Erkrankungen haben, wurden alle zwei Wochen 100.000 internationale Einheiten Vitamin D gegeben, über einen Zeitraum von zwei Jahren. Am Ende hatten in der Vitamin D-Gruppe deutlich weniger Leute Rückfälle oder Veränderungen im MRT als in der Placebogruppe. Das könnte darauf hindeuten, dass Vitamin D die Krankheitsaktivität verlangsamen kann. Auch Carsten Carlberg forscht zu dem Zusammenhang zwischen Multiple Sklerose und Vitamin D.

Dr. Carsten Carlberg: Wir haben eine Zusammenarbeit mit der Charité in Berlin und wir haben Zugang zu Blutproben von MS-Erkrankten und untersuchen genau das. Und ich kann jetzt kein abschließendes Ergebnis jetzt sagen, weil wir es noch nicht haben, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Vitamin D einen Unterschied macht.

Johanna Stegmann: Wie vorhin schon angedeutet, spielt Vitamin D eine wichtige Rolle im Immunsystem. Und damit wir darüber reden können, muss ich kurz ein bisschen ausholen. Wir machen jeden Tag Milliarden von Immunzellen, das passiert im Knochenmark und dort werden die Zellen dann neu programmiert. Und diese neuen Zellen müssen wissen, was werde ich denn jetzt, also welchen Job nehme ich an? Und idealerweise passt sich das Immunsystem an die jeweilige Situation an. Wenn ich zum Beispiel eine Erkältung habe, werden andere Immunzellen produziert als in einer gesunden Phase. Und damit das funktioniert, braucht der Körper eine Art Steuerungssystem. Und das legt fest, welche Gene in einer Zelle aktiv sind und welche nicht. Genau das beschreibt übrigens die Epigenetik. Sie sorgt dafür, dass Gene an oder ausgeschaltet werden können.

Dr. Carsten Carlberg: Die Programmierung der Zellen während der sogenannten Hematopoese, also sozusagen der Entscheidungsfindung, was wird aus einer Stammzelle, wird daraus eine Zelle des angeborenen Immunsystems, wie zum Beispiel eine Monozyte, oder wird daraus eine T-Zelle des adaptiven Immunsystems oder eine B-Zelle. Es gibt 11 verschiedene Linien von Immunzellen und sehr, sehr viele Unterlinien. Deren relative Menge spiegelt sich im Blut wider und die sollten dem Problem entsprechend in bestimmten Mengen und in bestimmten Ausstattungen da sein. Und dann kommt ein Zelltyp mit einem bestimmten Repertoire von Oberflächenmolekülen und natürlich auch Proteinen innerhalb der Zelle, die diese Zelle zu ihrer speziellen Funktion machen. Und dafür braucht man Genexpression.

Johanna Stegmann: Jede Zelle, also auch jede Immunzelle, hat ihr eigenes Set an Aufgaben. Damit die Zelle diese Aufgaben ausführen kann, müssen bestimmte Gene eingeschaltet werden. Das nennt man Genexpression. Ob ein Gen aktiv wird oder nicht, hängt davon ab, wie gut die DNA an dieser Stelle zugänglich ist.

Dr. Carsten Carlberg: Wir haben nukleare Hormone. 125 G-Hydroxyvitamin D ist ein nukleares Hormon, wie Östrogen oder Testosteron ein nukleares Hormon ist. Und jedes dieser Hormone bindet an einen Rezeptor. Und dieser Rezeptor ist gleichzeitig ein Transkriptionsfaktor.

Johanna Stegmann: Nukleare Hormone wie Vitamin D wirken direkt im Zellkern. Sie binden an spezielle Rezeptoren, die Transkriptionsfaktoren. Diese Faktoren entscheiden, welche Gene gerade an oder ausgeschaltet werden. Vitamin D wirkt dabei auf den Vitamin D Rezeptor und steuert so die Geneaktivität.

Dr. Carsten Carlberg: Der bindet diese aktive Form von Vitamin D und dann ist der aktiv. Dann ist der getriggert, das Chromatin zusammen mit anderen Proteinen aufzumachen an bestimmten Stellen und Gene zu aktivieren. Da sind natürlich ein Haufen anderer Proteine noch dazwischen. Aber die simple Fassung ist, Vitamin D an Rezeptor, Polymerase und die macht dann am Ende ausreichend viele Kopien RNA. Und diese RNA wird dann in Proteine umgesetzt und damit bekommt eine Zelle ein bestimmtes Funktionsrepertoire Und dann verteilen sich diese Zellen in den Körper und gehen teilweise in die Gewebe, zum Beispiel Monozyte. Die können sich dann in Makrophagen oder in dendritische Zellen umwandeln. Dieser Differenzierungsprozess ist eine epigenetische Veränderung, die von Vitamin D mitgesteuert wird.

Johanna Stegmann: Vitamin D hilft also dabei, dass Zellen die richtigen Gene zur richtigen Zeit aktivieren. So wird schon während der Entwicklung festgelegt, wie viele und welche Art von Immunzellen entstehen. Später steuert Vitamin D dann noch, wie diese Zellen sich im Gewebe spezialisieren und ihre Aufgaben erfüllen. Zum Beispiel Bakterien beseitigen oder reparieren.

Dr. Carsten Carlberg: Es ist viel wichtiger und viel effizienter, man hat Vitamin D genommen, bevor man eine Infektion bekommen hat, als wenn man das Vitamin D nimmt, wenn man eine Infektion hat oder gar danach. Das heißt also, wenn man den Körper und damit das Immunsystem darauf vorbereitet, da könnte vielleicht was kommen, ist das besser als erst zu reagieren, wenn man was merkt. Wenn du merkst, dass du eine Erkältung hast, dann ist das eigentlich schon die Infektion schon zwei, drei Tage her. Wenn du dann erst Vitamin D nimmst, dann bist du ganz klar nach dem Infektionsprozess. Vitamin D ist da nicht ein Wundermittel, aber es ist etwas, was dem Immunsystem die Richtung vorgibt.

Johanna Stegmann: Funktioniert der Vitamin D-Rezeptor bei Low-Responder eigentlich anders oder reagiert weniger stark als bei High-Respondern?

Dr. Carsten Carlberg: Ganz genau im molekular haben wir auch noch nicht alle Schritte verstanden und wir haben auch verschiedene Hypothesen, woran es liegen kann. Wie üblich sind die Gründe dafür einmal genetisch und einmal epigenetisch. Wir benutzen den Vitamin D-Responseindex eigentlich nur als ein Marker zu verstehen, warum sind manche Menschen geringe Responder und dann sage ich nicht Vitamin D, sondern zu allem. Diese Menschen altern höchstwahrscheinlich schneller und sie bekommen wesentlich häufiger Krankheiten wie Krebs, Diabetes und so weiter. Das heißt also Leute, die geringe Responder sind auf verschiedenen Ebenen, nicht nur für Vitamin D. Wir messen so, wir sehen es nur an dem Vitamin D, die haben leider ein Problem und die, die gute Responder, oder sehr gute Responder sind, das ist umgekehrt, die altern langsamer und die bekommen weniger Krankheiten. Wenn man sich über sein Leben bewusst ist und versucht, sich von Stress fern zu halten, genügend schläft, dann natürlich ausreichend bewegt, das vernünftige Essen. Also das Gesamtpaket ist wichtig und man darf einfach nicht davon ausgehen, dass, wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hat, wo die Wahrscheinlichkeit für Krebs, Diabetes und Ähnliches deutlich höher ist, dass es dann eine Wunderpille gibt, sondern im Idealfall von frühester Kindheit an genügend bewegt und die anderen Faktoren auch berücksichtigt.

Johanna Stegmann: Ganz herzlichen Dank fürs Gespräch. Das war der Code des Lebens, produziert von GHGA, dem Deutschen Humangenom- Phänomarchiv.

Über diesen Podcast

Der Code des Lebens – der Wissenschaftspodcast von GHGA beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der menschliche Genomforschung. Obwohl wir 99% unseres Erbgutes (=unserer Gene) miteinander teilen, machen die kleinen Unterschiede uns zu dem was wir sind. Doch wie ist unser Erbgut eigentlich entstanden? Wie funktioniert Genomforschung und wie beeinflussen unsere Gene unser tägliches Leben? Diesen Fragen und mehr geht “Der Code des Lebens” auf den Grund. Zuhörende benötigen kein spezielles Vorwissen um in die faszinierende Welt der Gene einzutauchen.

Dieser Podcast wird präsentiert von GHGA – dem deutschen Humangenom-Phenom Archiv. Wir entwickeln eine Infrastruktur, in welcher humane Genomdaten sicher gespeichert und kontrolliert für die biomedizinische Forschung zugänglich gemacht werden können. Das Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und ist Teil der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI).

Podcastlizenz: CC-BY

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