00:00:00: Johanna Stegmann Hallo und herzlich Willkommen zu einer neuen Folge vom Code des Lebens. Ich bin Johanna Stegmann und spreche jeden Monat mit Expert:innen rund um spannende Themen aus der Genomforschung. Heute geht es um ein Thema, das Millionen Menschen weltweit betrifft: Chronisch entzündliche Darmerkrankungen. Wahrscheinlich habt ihr schon mal von Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa gehört. Aber was passiert bei diesen Erkrankungen eigentlich im Körper? Und wie kann moderne Forschung dabei helfen, die Behandlung individueller und wirksamer zu machen? Mein heutiger Gast ist Professor Dr. Philip Rosenstiel. Er hat eine Professur für klinische Molekularbiologie an der Uni Kiel und ist Direktor am gleichnamigen Institut. Und er forscht an den molekularen Mechanismen von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Mit ihm spreche ich darüber, warum diese Erkrankungen so komplex sind und welche Rolle dabei Biomarker und Multiomics spielen. Zu Beginn wollte ich von Herrn Rosenstiel wissen, wie er zu seinem jetzigen Forschungsfeld gekommen ist. War das ein Kindheitstraum oder eher Zufall?
00:01:09: Prof. Dr. Rosenstiel Nein, das war sicher eher Zufall. Also erst mal Hallo, mein Name ist Philip Rosenstiel. Ich freue mich hier zu sein und möchte nochmal sagen, dass das Zufall war. Das war früher auch wirklich in der Medizin anders. Damals gab es ganz, ganz wenige Stellen, als ich angefangen habe. Das war einfach das Problem, dass man sich das nicht so aussuchen konnte, wo man eigentlich hingeht. Und ich war erst fest davon überzeugt, dass ich Kardiochirurg werde und danach war ich fest davon überzeugt, dass ich in Neurologie gehe. Aber was ich immer wollte und da bin ich sehr früh im Studium dazu gekommen, mich hat immer die Forschung fasziniert, irgendwas zu finden und irgendwelche Ordnung hinter dem Chaos zu finden. Das hat mich früh fasziniert. Und als ich dann anfangen wollte zu arbeiten, wurde mir sehr klar bedeutet, damals gab es noch das sogenannte AIP, für die Hörer, das war damals ein Drittel des Gehaltes, aber die volle Verantwortung. Und das musste man für zwei Jahre machen. Und da hat mir dann jemand gesagt, bei dem ich eine Stelle haben wollte, Sie können gerne forschen, da machen Sie vormittags bei mir halbtags die Ambulanz und nachmittags können Sie dann für umsonst forschen. Damals hatten wir, meine Frau und ich, schon unser erstes Kind relativ früh bekommen und das war einfach wirtschaftlich nicht machbar. Und dann habe ich so links und rechts geguckt. Und dann bin ich irgendwie durch Zufall bei einem jungen Wilden gelandet in der Gastroenterologie und er hat mir dann eine Forschungsstelle angeboten, wo ich gleichzeitig Ambulanz machen konnte. Und das hat mich dann am Ende dahin getragen, wo ich heute bin und ich habe sehr schnell tatsächlich auch begriffen, wie faszinierend und wie furchtbar und unerklärt eigentlich diese Erkrankungen sind. Und das hat mich bis heute in dem gleichen Feld gehalten.
00:02:46: Johanna Stegmann Für alle, die selbst nicht betroffen sind, wie fühlt sich eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung an? Also, was macht sie mit dem Alltag? Was ist eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung überhaupt genau?
00:02:58: Prof. Dr. Rosenstiel Glücklicherweise kann ich nicht sagen, wie sich das anfühlt. Ich habe selbst diese Erkrankung nicht. Aber ich kann das vielleicht ein bisschen beschreiben. Das ist so, als wenn man verdorbenes Essen gegessen hat und man hat Durchfall und Schmerzen, nur im Grunde Zeit des Lebens. Und es ist eben eine chronische Erkrankung, wo eine Entzündung, also eine Abwehrreaktion auf einen unklaren Reiz hin im Darm auftritt an unterschiedlichen Stellen. Deswegen heißt das eine Colitis, weil es eben nur im Dickdarm, im Colon, auftritt. Das andere heißt Morbus Crohn nach einem Menschen, der das mal mitgefunden hat. Da kann der ganze Darm betroffen sein. Und das sind immer wiederkehrende chronische Entzündungsschübe oder auch chronische Aktivität, die mal hoch und mal runter geht, die im Grunde Durchfall, Schmerzen, aber auch viele andere Dinge bedingt. Da gibt es Komplikationen, wie zum Beispiel sogenannte Fisteln beim Morbus Crohn, wo eine Entzündung sich von einem Organ, dem Darm, in ein anderes Organ einen Weg bahnt und ein Loch hinein macht. Es ist chronisch und es wird die Patientinnen und Patienten ihr Leben lang begleiten, wissend, dass beides bisher unheilbare Erkrankungen sind. Und was dazukommt, und das ist etwas, was wir in den letzten Jahren immer mehr verstehen, wir denken dann immer an Durchfall und Schmerzen und so wird das dann auch in der Klinik gemessen. Da gibt es so Scores. Das, was immer mehr in den Vordergrund tritt, sind auch andere Dinge, die diese Patientinnen und Patienten betrifft. Zum Beispiel die Müdigkeit. Entzündung ist etwas, was auch müde macht, weil es einfach Arbeit des Körpers ist. Und das ist etwas, was uns auch bewegt. Diese unterschiedlichsten Dimensionen von dem sozialen Wohlbefinden, bis zu den tatsächlichen organischen Problemen und Symptomen zu beschreiben und da sich ein Weg durchzubahnen, was bedeutet eigentlich diese Erkrankung für die Patientinnen und Patienten.
00:04:53: Johanna Stegmann Sie hatten gesagt, diese Erkrankungen sind nicht heilbar. Warum ist es denn so schwierig, diese Erkrankungen zu heilen?
00:05:00: Prof. Dr. Rosenstiel Einfach, weil wir die Schalter der Chronizität, die Schalter dessen, was da eigentlich umgelegt wird, warum da eine Erkrankung ist, nicht kennen. Bei einigen kennt man Risikofaktoren. Aber der eigentliche Punkt, warum man irgendwann als Ärztin oder Arzt sagt, hier ist jetzt die Grenze zur sogenannten Manifestation, das, was wir dann als Krankheitsdiagnose bezeichnen, überschritten, das ist ein klinischer Punkt, wo man dann irgendwann sagt, das ist jetzt so und so oft aufgetreten, hat diese Symptome, sieht so und so unter dem Mikroskop aus, also ist es diese und diese Diagnose. Ja, und wir haben keine Ahnung, warum und wann das eigentlich anfängt. Und das ist auch etwas, woran wir forschen. Das ist eben das, was wir präklinischen Verlauf nennen. Also das ist ja relativ logisch, dass das anders ist als ein Verkehrsunfall, wo man um 15:11 Uhr gegen den Baum fährt. Und danach hat man ein Problem. Hier ist es ja wahrscheinlich, dass es viele Jahre vorher beginnt, dass da irgendeine Fehlregulation beginnt und irgendwann überschreitet es dann eine Grenze, wo es erstens die Patientin und der Patient merkt und am Ende der Behandler sagt, naja, das ist jetzt diese Diagnose. Das ist die Schublade, wo wir das dann reintun.
00:06:10: Johanna Stegmann Sie hatten ja auch schon angesprochen, dass man auch gar nicht so genau sagen kann, wann jetzt dieser Zeitpunkt auftritt. Aber kann man sagen, in einer bestimmten Altersspanne tritt das eher auf oder kann das von 0 bis 99 auftreten?
00:06:25: Prof. Dr. Rosenstiel Also grundsätzlich kann das von 0 bis 99 auftreten, aber es gibt natürlich eine Zeitspanne des jungen Erwachsenenalters, wo das häufig auftritt. Zwischen 15 und 35 ist das Hauptalter, wo diese Erkrankung auftritt. Es gibt ganz, ganz frühe Erkrankungen. Da ist das häufig genetisch veranlagt, wo man dann eine Mutation, wie bei anderen Erbkrankheiten, hat, die dann unbedingt zu dieser Erkrankung führt. Aber für die überwiegende Mehrzahl ist das eine, wir nennen das sporadisch, das tritt einfach auf und wir wissen, dass es da so kleine genetische Webfehler gibt, die das begünstigen. Wir können sehr gut beschreiben, was da passiert und da wissen wir ganz viel von den Vorgängen in den Immunzellen und was dann kaputt geht und welche Signale da hin und her geschickt werden. Aber was das ursprüngliche Signal ist, wissen wir alles nicht. Diese Schalter der Chronizität, das sind eben Gegenstände unserer Forschung.
00:07:14: Johanna Stegmann Es gibt ja auch verschiedene Therapiemöglichkeiten bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und ich habe gelesen, dass sie aber nicht alle gleich gut wirken bei jeder Patientin und bei jedem Patienten. Warum ist das denn so und welche Therapien gibt es momentan überhaupt?
00:07:30: Prof. Dr. Rosenstiel Grundsätzlich hat sich die Therapie, und das ist, glaube ich, auch die gute Nachricht für die Patientinnen und Patienten, hat sich sehr, sehr verbessert. Früher ist man an diesen Erkrankungen gestorben, weil diese Entzündung irgendwann Löcher in den Darm gemacht hat und dann kam es zu einer Bauchfellentzündung oder auch zu anderen Komplikationen, also einer Blutentzündung, die wir dann Sepsis nennen. Daran ist man dann einfach verstorben, weil es keine gezielte Therapie gab. Und dann kam es irgendwann, das ist eine der ersten klinischen Studien, die tatsächlich veröffentlicht wurde, ist eben der Einsatz von Cortison, also ein Medikament, was wir alle kennen, was das Immunsystem runtermacht mit vielen Nebenwirkungen, aber dennoch eben auch der guten Wirkung, da es die Entzündung unterdrückt. Und das hat auch weiterhin seinen Platz in der Behandlung, in der akuten Behandlung dieser Krankheit. Und dann gibt es im weiten Sinne Medikamente, die entweder ungezielt oder gezielt in das Immunsystem eingreifen. Früher gab es breite Immunsuppressiva, das wird immer mehr verlassen, zugunsten von sehr gezielt eingreifenden Therapien, wo wir, ich habe gesagt, wir verstehen ganz gut, wie sich die Immunzellen unterhalten. Das muss man sich wirklich so vorstellen, die eine Immunzelle, sie schickt so ein Signal raus, das ist ein kleines Peptid oder ein kleines Eiweiß, das dockt dann an so eine Andockstelle, eine andere Immunzelle, die nennen wir dann Rezeptor und dann kommt ein Signal und dann macht das Entzündungen. Und diese Rezeptoren, die kann man heute mit sogenannten Antikörpern herstellen biotechnologisch und damit kann man dann die Rezeptoren oder auch mit kleinen Molekülen die Signale in den Zellen sehr spezifisch unterbinden. Und das war wirklich ein Gamechanger für diese Erkrankung. Die erste Therapie heißt Anti-TNF, Tumornekrosefaktor, das hört sich ganz furchtbar an, hat mit Tumornekrose, also mit Tumor Tod eigentlich wenig zu tun. Das war ungefähr so 2000, in den letzten 20 Jahren kamen immer mehr solche Medikamente dazu. Die sind alle hoch effektiv, eben auch Cortison zu sparen, also die Nebenwirkung von Cortison so klein wie möglich zu halten und wenn sie dann wirken, die Erkrankung der Patienten tatsächlich relativ gut in Schach zu halten.
00:09:31: Johanna Stegmann Früher gab es kaum Behandlungsmöglichkeiten und die Erkrankungen endeten meist tödlich. Dann kam Cortison, das unterdrückt das Immunsystem und wirkt schnell gegen akute Entzündungsschübe, hat aber viele Nebenwirkungen. Heute gibt es sehr gezielt eingreifende Therapien wie zum Beispiel Anti-TNF. Sie blockieren bestimmte Entzündungssignale und können die Erkrankung oft deutlich besser kontrollieren. Ein Problem bleibt aber: Das wirkt leider nicht bei allen und genau hier setzt die Forschung von Herrn Rosenstiel an.
00:10:00: Prof. Dr. Rosenstiel Was ist das Problem? Sie haben gesagt, die wirken nicht gut und das stimmt. Sie können damit beginnen und dann haben sie ungefähr nach einem Jahr irgendwo zwischen 40 bis 50 Prozent der Patientinnen und Patienten, die richtig davon profitieren, noch viel weniger, wo die Erkrankung so richtig abgeschaltet ist. Das sind dann eher so 10 bis 20 Prozent. Das heißt aber auch im Umkehrschluss, dass 50 bis 60 Prozent davon nicht profitiert haben. Da geht man dann zum nächsten Therapieprinzip über, sich langhangelnd und das ist eben eine der großen Bedürfnisse auch der Entzündungsmedizin hier zu verstehen, warum die eine Patientin, der Patient, darauf reagiert, der andere nicht so gut und können wir das möglicherweise vorher oder währenddessen deutlich besser steuern, um eigentlich die Erkrankung bei allen bestmöglich abzuschalten. Warum braucht man das? Das Problem ist, dass Entzündung, und das kennen wir alle, wenn wir eine entzündete Wunde an der Hand haben oder am Arm haben, dann bleibt da meistens eine Narbe zurück. Genauso hier, wenn eine Entzündung für eine bestimmte Zeit über den Darm geht, dann bleibt irgendwas zurück und im Zweifelsfall eine Narbe, was beim Morbus Crohn eine Engstelle sein kann, aber zumindest verändert sich die Struktur des Darmes und irgendwann wird das nie wieder so wie vorher.
00:11:15: Johanna Stegmann Was bedeutet es denn konkret, wenn es zur Narbenbildung kommt? Also, welche Folgen bringt das für die Patientinnen mit sich?
00:11:21: Prof. Dr. Rosenstiel Beim Morbus Crohn bedeutet das, das kennt man auch, wenn man eine Narbe hat, dann zieht sich die Narbe zusammen, dann kommt da so Bindegewebe und dann hat man hinterher eine weiße Stelle, die meistens härter ist und meistens zusammengezogen ist und das nennen wir dann Narbe. Und wenn man das im Darm hat, das muss man sich ja vorstellen wie ein Gartenschlauch. Wenn sich da was zusammenzieht, dann hat man eine Engstelle und das ist ein wirkliches Problem, weil dann da eben Nahrung nicht mehr so einfach durchgeht und gegebenenfalls sogar eine Operation gemacht werden muss, um diese Engstelle entweder rauszuschneiden oder so chirurgisch zusammenzunehmen, dass es keine Engstelle mehr ist. Das ist bei der Colitis Ulcerosa ein bisschen anders. Da gibt es diese Engstellen nicht, aber da ist zum Beispiel das Problem, wenn man lange eine Entzündung da draufhat und sich das alles so verändert, dann hat man zum Beispiel ein erhöhtes Risiko für einen Darmkrebs, für einen Kolonkarzinom. Und je länger da unkontrolliert eine Entzündung drüber geht, auch da funktioniert der Darm dann nicht mehr so gut und dann ist es auch so, dass dann die Nahrungsbestandteile nicht mehr so gut aufgenommen werden können und so weiter. Da kann man die Narbe nicht so gut fassen wie beim Morbus Crohn, weil das eben auch immer segmental ist, also immer in kleinen Abschnitten kommt. Aber bei der Colitis Ulcerosa und auch beim Morbus Crohn, der den Dickdarm befällt, ist eben das große Problem, dass auch langfristig, wenn es unkontrolliert ist, auch ein Krebsrisiko erhöht. Und deswegen ist eben unser Ziel, diese Therapien so gezielt wie möglich und auch molekular gezielt wie möglich, also ein Verständnis, was der einzelne Patient für einen Setup hat, wie das bei der Patientin und dem Patienten aussieht, möglichst genau zu steuern, letztendlich so wie es in der Onkologie ja auch in der sogenannten Präzisionsonkologie gemacht wird, wo man eben versucht, den Tumor zu verstehen und daraufhin die Therapien zuzuschneiden.
00:13:07: Johanna Stegmann Personalisierte Therapien sind also das große Ziel und hier spielen Biomarker eine wichtige Rolle.
00:13:12: Prof. Dr. Rosenstiel Ein Biomarker ist erstmal ein sehr breiter Begriff. Also Biomarker heißt ja eigentlich nichts anderes als dass ich etwas messe, was ein bestimmtes Prinzip ist und das kann entweder ein Protein im Serum sein, das kann auch irgendeine Substanz XY aus dem Serum sein, das kann letztendlich auch ein Bild sein, es ist auch ein Biomarker im weiteren Sinne. Irgendwie etwas misst man, was assoziiert ist mit einem bestimmten Prozess im Leben und deswegen heißt es Biomarker. Im Grunde ist es ja nur etwas, was man versucht, standardisiert und objektivierbar zu messen und dann zu gucken, wenn das jetzt hochgeht, geht das Risiko runter oder das Risiko geht rauf und entlang dieser Korridore, die man dann definiert, versucht man Therapie, in diesem Fall, weil es eben assoziiert ist mit Therapie, Therapie zu optimieren. Was uns eben beschäftigt, sind unterschiedliche Biomarkerqualitäten und wir kümmern uns darum, was in den Immunzellen passiert. Das kann man zum einen messen, indem man schaut, was wird denn eigentlich gerade aktiv vom Erbgut abgelesen, wir nennen das Genexpression, also was macht die Zelle gerade? Wenn man das misst, dann kann man sagen, aha, diese Zelle ist besonders entzündet und macht jetzt folgende Zytokine und so weiter. Dann hat man ein relativ komplexes Bild und dann kann man schauen, welche der vielen unterschiedlichen Gene, die gerade exprimiert werden, haben den höchsten Vorhersagewert für ein bestimmtes Ereignis, zum Beispiel, ob man auf eine bestimmte Therapie XY anspricht oder nicht. Und wenn man dann sagt, okay, das ist entweder grün oder das ist rot, dann würde man die Therapie auswählen oder eben dementsprechend anpassen.
00:14:51: Johanna Stegmann Biomarker sind also messbare Größen, die uns etwas über biologische Prozesse verraten. Das kann ein Protein im Blut sein, eine Substanz oder sogar ein Bild. Bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen interessiert Forscher:innen vor allem, was in den Immunzellen passiert und welche Signale sie aussenden. Mit diesen Messungen versuchen die Forschenden herauszufinden, wie Patient:innen am besten auf bestimmte Therapien reagieren könnten.
00:15:17: Prof. Dr. Rosenstiel Ist das klinischer Standard? Nein, das ist es noch nicht, sondern das sind eben die klinischen Studien, die wir derzeit durchführen, um das in den klinischen Alltag hineinzubringen. Bisher ist es relativ simpel. Da guckt man im Stuhl nach einem bestimmten Marker, der heißt fäkales Calprotectin. Das ist ein Protein, das wird von bestimmten Immunzellen, den sogenannten Neutrophilen, im Wesentlichen ausgestoßen. Wenn viele Neutrophile da sind, heißt das viel Entzündung. Das kann man messen im Stuhl oder man guckt im Serum nach einem bestimmten Protein. Das heißt C-reaktives Protein, komischer Name, kommt aus der Leber. Die Leber sammelt sozusagen alle Entzündungssignale des Körpers ein. Wenn dann eine bestimmte Schwelle überschritten wird, dann macht es eben dieses sogenannte Akute-Phase-Protein CRP raus. Das ist etwas, was übergreifend bei allen Entzündungskrankheiten, auch wenn man Lungenentzündung hat oder so, gemessen werden kann. Das sind die beiden Entzündungswerte neben anderen Parametern, die derzeit eingesetzt werden. Und wir versuchen das eben ein bisschen zu verfeinern, weil diese beiden Werte nicht ausreichen, um Therapien vorherzusehen.
00:16:19: Johanna Stegmann Biomarker noch mal zum Verständnis: Das sind messbare biologische Merkmale. Und da gibt es viele, die man eben auch schon kennt. Aber es gibt doch wahrscheinlich auch total viele, die man noch nicht kennt, die aber auch mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen zusammenhängen. Das ist doch ein Suchen einer Nadel im Heuhaufen oder viele Nadeln im Heuhaufen, oder?
00:16:36: Prof. Dr. Rosenstiel Ich vergleiche das immer gerne, wenn man auf eine Stadt geografisch schaut und versucht, die Stadt zu verstehen. Dann haben Geographen ganz schlaue Ansätze, finde ich, von denen wir lernen können. Wir können auf die Karte eine Populationsdichte draufprojektieren. Wir können die Höhe der Stadt draufprojektieren. Und jeweils werden wir einen kleinen, unterschiedlichen Teilaspekt der Gesamtfunktion dieser Stadt sehen. Und das ist bei den Biomarkern eben genauso. Wenn wir uns in den Biomarkern zum Beispiel die Genexpression anschauen, dann ist das eine Ebene, die für sich geschlossen und hypothesenfrei messbar ist. Wir können einfach gucken, welche Gene sind gerade aktiv? Karte Nummer 1, Karte Nummer 2 sind zum Beispiel diese Serumproteine. Karte Nummer 3 ist vielleicht das Mikrobiom, also die Gesamtzahl der Bakterien, die wir haben. Und jetzt kann man eben für jede dieser Ebenen schauen, wie hängen die bei einzelnen Patienten zusammen? Und man kann eben bestimmte Merkmale aus diesen einzelnen Karten aus der Vielzahl dieser Merkmale heraus extrahieren, die dann die maximale Information bieten und da drüber dann eben neue Biomarker generieren. Und das ist ja das, was wir Multi-Omics nennen, diese sogenannten Omics-Technologien, die ja nichts anderes sind als die geografischen Karten von bestimmten molekularen Merkmalen eines Organismus.
00:17:57: Johanna Stegmann Sie haben gerade eben den Begriff Omics erwähnt und dass wir uns das vorstellen können wie verschiedene Ebenen, die wir betrachten. Können Sie noch mal genauer erklären, was sind Omics?
00:18:07: Prof. Dr. Rosenstiel Also Omics ist ein Hypewort, ein Buzzword, das ist etwas, was entstanden ist, ich würde mal sagen, so Anfang der 2000er Jahre, als man begonnen hat eben nicht nur einzelne Dinge zu messen, wie es früher war, da hat man sich dann ein Protein angeguckt und man hat sich eine genetische Variante angeguckt, sondern mit dem Fortschreiten der Technik gab es auf einmal Technologien, die hypothesenfrei im Grunde eine Gesamtbeschreibung von einer molekularen Ebene machen konnte. Ein gutes Beispiel ist vielleicht das Genom, das ist auch ein Omics. Es war völlig undenkbar vor 2000, dass man das Gesamtgenom lesen kann und da hat man dann an einzelne Stellen hingeguckt und hat sich irgendwelche Marker, irgendwo her aus irgendwelchen Datenbanken, einzeln angeguckt. Heute ist in der Klinik einfach angekommen, dass wir ein Tumorgenom sequenzieren. Ja, man kann sich eben alle Varianten angucken und man muss nicht raten, welche Variante bei diesem Tumor sozusagen da ist. Und das gibt es eben nicht nur für das Genom, für die DNA, sondern es gibt es für unterschiedliche Dinge wie zum Beispiel die RNA, also die Genexpression oder die Genom-Modifikation, also zum Beispiel DNA-Methylierung, die Gene langfristig an oder ausschalten, das nennt man das Methylom oder die Metabolite, die im Serum sind, das ist dann das Metabolom. Das ist wirklich ein Gamechanger, weil man eben von diesem Raten wegkommt, mehr oder minder zu statistischen Methoden, um daraus eben Dinge abzuleiten.
00:19:38: Johanna Stegmann Welche Biomarker sind denn bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen besonders relevant?
00:19:42: Prof. Dr. Rosenstiel Im Moment sind die Biomarker die klassischen Laborbiomarker, die im Grunde für alle Entzündungskrankheiten auch verwendet werden. Das sind die Zahlen von weißen Blutkörperchen, also den Abwehrzellen im Blut, die entweder hoch sind, wenn Entzündung da ist oder niedriger sind, wenn keine Entzündung da ist. Und das sind auch bestimmte Marker im Stuhl, das sind eigentlich so die wesentlichen Marker, die zur Steuerung einer Therapie eingesetzt werden, plus eben die Symptomatik der Patientinnen und Patienten. Das, was wir uns anschauen, sind eben diese Genexpressionsprofile von Immunzellen. Und das andere sind Marker, dass man diese Signale im Serum direkt misst. Und das Dritte sind die Darmmikroben, also das sogenannte Mikrobiom, wo wir auch wissen, dass bestimmte Konstellationen mit Entzündung assoziiert sind. Das sind so die drei großen Ebenen, an denen wir auch schauen. Zum einen kann man das einsetzen, um Aktivität und Therapie besser zu beschreiben und zu steuern. Und zum anderen, die auch miteinander in Beziehung setzen, also wenn zum Beispiel eine Immunzelle XY, weil eine Mikrobe Z da ist, ein bestimmtes Signal sendet, dann ist das ja auch eine mögliche Stelle für eine Therapie. Das ist sozusagen die andere Sache, die an diesen Multiomics-Sachen eigentlich ganz cool ist, dass man eben nicht nur sagt, naja, das ist halt irgendwie miteinander verbunden und können wir es vielleicht irgendwie entwickeln für die Klinik, sondern man kann eben auch neue Mechanismen und Signalwege oder therapeutische Prinzipien herausarbeiten. Zum Beispiel im Darmmikrobiom, um zu sehen, da sind zu wenig gute Mikroben und jetzt bringe ich mal in einer klinischen Studie das, was da fehlt, individuell rein und guck mal, wie sich die Erkrankung verändert.
00:21:21: Johanna Stegmann Wenn wir jetzt nochmal aufs Genom schauen, gibt es da bereits verschiedene Marker, die darauf hindeuten, dass man eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung hat?
00:21:32: Prof. Dr. Rosenstiel Das Genom ist nun bei diesen sogenannten polygenen Erkrankungen relativ wenig informativ. Also wir haben ganz, ganz viel gelernt, es gibt ganz viele hundert Varianten, die klar mit diesen beiden Erkrankungen jeweils einzeln, zusammen oder wie auch immer assoziiert sind und die vermitteln auch ein relatives Risiko. Das bedeutet aber nicht, dass der einzelne Patient, die einzelne Patientin deswegen krank ist. Also ich trage auch einige dieser Risikovarianten in mir, ich habe das nicht. Im klinischen Alltag führt also die sporadische Erkrankung beim Erwachsenen eigentlich zu keiner Konsequenz, wenn man nur darauf schaut, habe ich jetzt die Erkrankung oder nicht. Wo es hilft, es gibt eben klassische genetische Erbgänge, die dazu führen. Dann gibt es bestimmte Immundefizienzen, die dann auf einmal aussehen wie ein Morbus Crohn beim kleinen Kind. Aber für die überwiegende Mehrzahl der Patientinnen und Patienten spielt für die Diagnose die Genetik keine Rolle. Die Frage ist, können wir die Diagnose vorverlegen, bevor eigentlich die Erkrankung richtig ausgebrochen ist, um die bestmögliche Behandlung so früh wie möglich zu erzielen. Und da wird es eben im Wesentlichen um die anderen Ebenen gehen, zu verstehen, was sind frühe Prozesse, was sind frühe Ereignisse, die man dann mit einem bestimmten Risiko dem Kliniker und der Patientin, dem Patienten, nahebringen kann und sagen kann, hier, das ist das Problem. Und auch wenn das noch nicht so schlimm ist und wir das noch nicht die Krankheit nennen, können wir doch jetzt das und das machen. Das ist ein völliger Paradigmenwechsel für die Medizin. Es ist nicht so richtig vorgesehen, dass man eine echte Behandlung macht, wenn die Krankheit nicht da ist. Und das ist auch für das Arztsein nicht so ganz ohne, weil, jede Behandlung hat auch ein Risiko, das ist im Grunde ein Eingriff in die Unversehrtheit des Körpers. Und da müssen wir einfach umdenken und müssen tatsächlich, und das ist glaube ich ungelöst, das gilt aber jetzt nicht nur für diese Erkrankung, sondern im Grunde auch für alles andere wie Alzheimer und so weiter, wenn wir über Prävention reden, dann reden wir im Wesentlichen immer über sehr unspezifische Dinge. Im Wesentlichen ist es immer: leb mal gesund. Wenn wir jetzt tatsächlich nur mal das Gedankenspiel machen, dass wir heute vorhersagen könnten, dass Sie oder ich in fünf Jahren ein Morbus Crohn entwickeln würden, und das Einzige, was wir anbieten könnten, ist naja, leb mal gesund. Und dann sagen Sie, naja, das tu ich eh. Das hilft nicht so richtig. Der Begriff ist, glaube ich, molekulare Prävention, der durch die Gegend getragen wird, wo wir aber noch sehr, sehr wenig damit anfangen können. Und das wird, glaube ich, ganz spannend und das wird auch die Medizin tatsächlich verändern, wenn wir in solche Präventions-Dinge hineingehen und tatsächlich bestimmte Programme an oder abschalten wollten, die dann Krankheit bedeuten.
00:24:11: Johanna Stegmann Um dieses ganze molekulare Wissen zu nutzen und die Therapie individuell zu steuern, hat Herr Rosenstiel gemeinsam mit Kolleg:innen eine große Studie gestartet. Dabei wurde untersucht, wie sich die Therapie unter realen Bedingungen in der klinischen Praxis noch besser steuern lässt.
00:24:27: Prof. Dr. Rosenstiel Mit allen einfachen Worten, mit denen ich das jetzt hier probiere, bleibt es ja weiterhin etwas, was irgendwie sehr, sehr komplex ist und selbst für medizinisch, biomedizinisch trainierte Menschen wie vielleicht Ärztinnen und Ärzte manchmal ein Buch mit mehr als sieben Siegeln ist. Und die Frage ist eben, wie kann man das eigentlich nutzen? Also wir reden immer darüber, wie toll das alles ist und dann ja, passiert ein Wunder und dann hat sich alles verändert. Das muss man in eine Studie gießen. Und das ist eine Studie, die ist abgeschlossen worden letztes Jahr, die heißt GUIDE-IBD-Studie, also die haben immer so komische Kürzel. Und da ging es darum, genau dieses molekulare Wissen den Ärztinnen zur Verfügung zu stellen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemeinsam mit den Ärzten diskutieren zu lassen. Das ist nicht irgendwie, dass die Therapie automatisch verändert wird, sondern einfach nur das Wissen zur Verfügung zu stellen in einer Gruppe und in der anderen Gruppe das Bestmögliche zu machen, was die Leitlinien hergeben, eine Therapie neu zu starten, in diesem Fall tatsächlich dieses Anti-TNF, von dem ich vorhin erzählt habe. Die Patienten, die sozusagen die Indikation, also die Voraussetzung hatten diese Therapie zu erhalten, die wurden dann gefragt, möchten Sie mitmachen und dann haben davon glücklicherweise ziemlich viele, nämlich über 150 ja gesagt. Und dann wurde in der einen Gruppe, in einer großen Therapiekonferenz, wo wie gesagt die Studienschwestern und die Ärzte und die Wissenschaftler zusammengesessen haben, dann haben wir versucht, dieses molekulare Wissen, in diesem Fall war das diese Genexpression, von der ich erzählt habe, auf eine Karte zu tragen, wo es ganz viele grüne und ganz viele rote Punkte gab. Die roten Punkte waren die Patienten, denen es nicht so gut geht, die hatten wir vorher schon angeguckt und die grünen Punkte waren die, denen es gut ging. Und da gab es so ein paar graue Punkte, das war so der Startpunkt und so und die normalen Genexpressionsmuster. Und dann haben wir einfach die Patienten auf diese Karte projizieren, haben gesagt, nach der Therapie-Induktion hat sich jetzt das von rot nach grün bewegt und molekular würden wir sagen, dem Patienten, der Patientin geht es jetzt ein bisschen besser. Oder umgekehrt eben, das hat sich nicht bewegt, irgendwie wirkt die Therapie zumindest molekular nicht so richtig auf der Ebene, die wir betrachten. Das hat es jetzt nicht automatisch getriggert, aber das hat zumindest Nachdenken hervorgerufen und dann hat man vielleicht die Therapie ein bisschen schneller geändert und hat, wo man häufig dazu neigt, dann zu sagen, na ja, vielleicht wird es beim nächsten Mal besser, mal nicht gemacht. Also es ist ja am Ende eine individuelle Entscheidung der Ärztin gemeinsam mit dem Patienten. So, und dann hat man nach einem Jahr geguckt, wie gut geht es den Patienten. Und dann war die Gruppe, die dieses molekulare Wissen hatte, denen ging es deutlich besser, weil die einfach viel frühzeitiger die Therapie gewechselt haben und viel mehr von denen war das, was ich vorhin Krankheitskontrolle genannt hatte, da waren einfach die Symptome mehr weg. Also es ist nicht meine Studie, sondern das ist eine Studie von ganz, ganz vielen Menschen. Sowas funktioniert nur mit ganz, ganz vielen Menschen und insbesondere Patientinnen und Patienten.
00:27:14: Johanna Stegmann Die GUIDE-IBD-Studie hat untersucht, wie man die Therapie unter realen Bedingungen besser steuern kann. Etwa 130 Patient:innen nahm teil und die wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Hälfte erhielt die bisher beste Standardtherapie und die andere Hälfte eine individuell optimierte Therapie. Hier war entscheidend, dass die Ärzt:innen zusätzliche molekulare Informationen nutzen konnten. Alle Entscheidungen wurden gemeinsam von den behandelnden Ärzt:innen getroffen. Ziel war es herauszufinden, ob diese individuelle Herangehensweise den Behandlungserfolg steigern kann.
00:27:50: Prof. Dr. Rosenstiel Ich glaube, das Aha-Erlebnis war für mich eher, dass derjenige, der am Computer sitzt und eine völlig andere Sprache spricht, als die Ärztin und der Arzt, miteinander kommunizieren und sich austauschen können, als das tatsächliche Ergebnis, was man sicherlich auch noch mal in einer noch größeren Studie und so weiter, bevor es dann irgendwann in die Klinik kommt. Aber für mich war das wirklich ein Aha-Erlebnis, dass das Prinzip funktioniert und dass es sich lohnt, da weiterzumachen.
00:28:14: Johanna Stegmann Dass man eigentlich eine Übersetzerfunktion auch noch hat, ne?
00:28:18: Prof. Dr. Rosenstiel Genau. Ich glaube, das ist ein grundlegendes Problem von Forschung, die immer komplexer wird und auch der Medizin, die immer komplexer wird, ist: Wie bringt man das eigentlich zusammen? Weil die Idee, dass der Halbgott in Weiß sowohl die Forschungsalgorithmen und Techniken bis ins Letzte versteht und gleichzeitig den Patienten auf hohem Niveau behandelt, spätestens jetzt ist irgendwann mal vorbei und man muss diese Arroganz, das sage ich jetzt bewusst, die Arroganz, die auf beiden Seiten herrscht, also der Arzt versteht die molekulare Sache nicht und der Kliniker sagt, na ja, die molekularen Spinner verstehen das andere nicht, diese Hürde müssen wir einfach runterreißen und wieder ist die Onkologie, glaube ich, ein gutes Beispiel, die das einfach geschafft haben, eben ein Tumorgenom zu übersetzen in ein Tumorboard und dann in eine Präzisionstherapie. Leider sterben die Menschen immer noch viel zu sehr, aber natürlich ist die Hoffnung, dass sich das in allen Feldern der Medizin irgendwann so ein bisschen durchsetzt.
00:29:12: Johanna Stegmann Wenn wir mal die nächsten Schritte angucken, also nachdem die Studie abgeschlossen ist, wie würden dann die weiteren Schritte aussehen, bis es dann in der klinischen Praxis ankommt?
00:29:22: Prof. Dr. Rosenstiel Was wir bisher eben besprochen haben, ist ja tatsächlich ein Forschungszusammenhang. Die Frage ist ja, wie kann man das in die Klinik bringen? Und ich habe eben gerade das Beispiel dieser GUIDE-IBD-Studie definiert. Da war das eine begrenzte Anzahl am Ende von sogenannten Biomarkern, die wir dann aus diesem komplexen Datensatz herausgelesen haben, die dann zu dieser Einschätzung auf dieser Karte geführt haben. Das ist jetzt sozusagen die Validierung in einer Studie. Das wussten wir vorher, diese Marker zeigen etwas an und jetzt gucken wir uns das in einer Studie an und dann passiert das und das. Am Ende wird man so etwas immer in der nächsten großen klinischen Studie validieren, bevor es in die Klinik, in die freie Wildbahn hinausgegeben wird und das auch ein Hausarzt idealerweise bei irgendeiner Firma dann bestellen kann. Also es sind immer diese Schritte: Wir haben einen Forschungszusammenhang, dann haben wir eine erste kleine klinische Studie, wo man das nochmal auch solche Biomarker quasi eingrenzt und dann braucht man eine große Biomarkerstudie und daran hapert es dann häufig. Ja, wie kriege ich auch da diese 1000 Patienten zusammen, wo ich dann tatsächlich das als Standard definieren kann, das vielleicht irgendwann mal auch in eine Leitlinienempfehlung übersetzen kann.
00:30:32: Johanna Stegmann Also Realität für die klinische Praxis ist momentan noch nicht?
00:30:38: Prof. Dr. Rosenstiel Realität für die klinische Praxis nur im Zusammenhang mit klinischen Studien. Ich glaube, so fair muss man sein.
00:30:44: Johanna Stegmann Wenn wir auf die Hindernisse schauen, sind das technische, finanzielle, regulatorische? Wie würden Sie das sehen?
00:30:50: Prof. Dr. Rosenstiel Ich glaube, in erster Linie ist, was können wir uns eigentlich leisten? Ja, und wenn wir sagen, wir können uns das leisten, dann glaube ich dürfen wir auch nicht auf dem hohen Ross sitzen eines extrem gut funktionierenden, auch wenn alle immer jammern, aber eines der ressourcenintensivsten Gesundheitssysteme, die auch am meisten noch funktionieren, zumindest für alle Menschen. Man braucht nur nach Amerika gucken, wo natürlich ganz, ganz viel möglich ist, aber eben nur für einen sehr geringen Anteil der Patientinnen und Patienten. Und die sterben halt daran, dass sie das Insulin nicht bezahlen können. Da sind wir glücklicherweise nicht. Aber die finanzielle Ressource zum Aufsetzen solcher großen Studien ist eine Sache. Die finanzielle Ressource Klinik, wie bringe ich das dann dahin und wie kann ich das auch nachhaltig in einem Klinikbetrieb ökonomisch aufrechterhalten ist der andere Punkt. Und in der Tat, wenn man darüber nachdenkt, erstens mal, wie setzt man solche Studien auf, dann ist das auch ein regulatorisch interessanter Punkt natürlich. Bisher werden ja Studien für ein neues Medikament immer von einer bestimmten Pharmafirma aufgelegt, die dieses Medikament entwickelt und es kostet einen Sack voll Geld. Und das kann man nur refinanzieren, wenn die Firma davon auch einen Benefit hat. Wenn man jetzt tatsächlich aber Therapieprinzipien nebeneinander vergleicht und möglicherweise guckt, unterschiedliche Therapieprinzipien von unterschiedlichen Firmen gegeneinander zu vergleichen mit bestimmten Biomarkern, die vielleicht gar nicht so wirtschaftlich interessant sind, dann hat man auf einmal gar keine Finanzierung mehr für solche Studien. Für mich ist das Geld einer der größten Punkte. Am Ende habe ich immer noch das Gefühl, dass wir auch darüber nachdenken müssen, dass das auch in Ländern funktionieren muss, wo das Einkommen nicht so hoch ist und wo das Gesundheitssystem nicht so funktioniert. Das ist vielleicht ein bisschen idealistisch. Aber bisher reden wir auf sehr hohem Niveau und sehr spezialisiert, aber irgendwo muss man anfangen.
00:32:55: Johanna Stegmann Herr Rosenstiel, letzte Frage. Wenn wir einen Blick in die Zukunft werfen, sagen wir mal, zehn bis fünfzehn Jahre. Was glauben Sie, wie wird eine chronisch entzündliche Darmerkrankung behandelt werden?
00:33:07: Prof. Dr. Rosenstiel Hoffentlich haben wir sie geheilt, wenn ich in Rente gehe, aber das ist relativ unwahrscheinlich. Wobei, ich gehe erst nach den fünfzehn Jahren in Rente, drei Jahre mehr Zeit. Aber sicher, die große Zukunft ist, kann man so etwas heilen und wir haben über Prävention, also Verhinderung geredet, können wir langfristig eine Krankheit reprogrammieren und sozusagen die kleinen Schalter, die da umgelegt werden einer unheilbaren Erkrankung, kann man die zurückdrehen? Ich glaube, das ist Zukunftsmusik und da sind fünfzehn Jahre realistisch nicht genug. Ich glaube, wir werden erste Schritte in diese Richtung gemacht haben. Heute gibt es die Möglichkeit, diese Programme in einzelnen Zellen auszulesen, die Einzelzellsequenzierung, also jede einzelne, also Millionen von Zellen gleichzeitig betrachten kann und wirklich sagen kann, also das ist jetzt genau die Zelle. Wir können tatsächlich jetzt nicht nur die Zelle unterm Mikroskop sehen, sondern können auch den Aktivitätszustand messen und so weiter. Ich glaube, das sind ganz tolle neue Technologien, wo man eben auch diese Reprogrammierung in bestimmten Zellpopulationen, ohne dass man jetzt mit der großen Kanone auf alles schießt, tatsächlich machen kann. Und diese zellbasierten Therapien, die sehen wir in anderen entzündlichen Erkrankungen, machen ganz phänomenale Dinge. Ich glaube nicht, dass es in fünfzehn Jahren zur Heilung führt, aber ich glaube, dass wir da viele Schritte weiter sind. Das, was realistisch ist, ist, dass wir auf den einzelnen Patienten, die einzelne Patientin mehr zuschneidern und tatsächlich den Krankheitsverlauf und die Behandlung besser kontrollieren können und etwas erreichen können, was wir bei der Onkologie schon lange als minimal residual desease bezeichnen, also die minimal übrig gebliebenen Erkrankungen bezeichnen, dass man Krankheitsaktivität ganz objektiv messen kann und daran sozusagen für den einzelnen Patienten, die einzelne Patientin, die Therapie deutlich besser steuern kann und dass es einfach Alltag wird, auch zu Hause mal eine Bioprobe zu nehmen und zu gucken und engmaschig zu überwachen, ohne dass man ständig in der Klinik rumhängt. Dass der mündige Patient, die mündige Patientin, die sich selbst und ihre Erkrankungen am besten kennt, auch einbezogen wird in diesem ständigen diagnostischen Prozess. Wir überwachen alle unsere Schrittzahl. Warum soll nicht auch eine Patientin, ein Patient, ihre Entzündungsaktivität mit überwachen und selber lernen das zu tun? Ich glaube, eine solches integriertes Verständnis von Krankheitsaktivität und von wie wirkt die Therapie wird zu ganz anderen Therapieerfolgen zielen, was wir eben als diese Schwelle der minimalen Resterkrankung bezeichnen. Das ist was, wofür wir geradestehen.
00:35:31: Johanna Stegmann Ganz herzlichen Dank fürs Gespräch. Das war der Code des Lebens, produziert von GHGA, dem Deutschen Humangenom-Phänomarchiv.