Der Code des Lebens

Der Code des Lebens

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Johanna Stegmann: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge vom Code des Lebens. Mein Name ist Johanna Stegmann und jeden Monat unterhalte ich mich mit spannenden Gästen aus der Humangenetik. In unseren Folgen sprechen wir ja oft über die Potenziale der Genetik, wie sie uns hilft, die grundlegenden Mechanismen und Ursachen von Krankheiten zu verstehen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen. Die Genetik kann auch ein Schlüssel sein, um Menschen endlich zur Diagnose zu verhelfen, nach der sie vielleicht Jahrzehnte lang gesucht haben. Die genetische Forschung eröffnet uns außerdem die große Chance für personalisierte Medizin und maßgeschneiderte Therapien. Es gibt aber auch eine andere Seite der Genetik - was passiert, wenn genetische Informationen missbraucht werden und Menschen aufgrund ihrer Gene diskriminiert werden? Darüber spreche ich heute mit meinem GHGA-Kollegen Andreas Bruns. Er ist Ethiker und kennt sich bestens mit den gesellschaftlichen, rechtlichen und moralischen Fragen rund um Genetik aus. Gemeinsam gehen wir spannenden Fragen auf den Grund, schauen uns konkrete Beispiele an und klären, welche Rechte wir eigentlich haben. Andreas, ich freue mich total, dass du heute unser Gast bist. Damit wir dich besser kennen lernen, stell dich doch bitte kurz vor.

Dr. Andreas Bruns: Ja, ich freue mich auch. Ich bin der Koordinator vom ELSI Workstream von GHGA. Das ist der Workstream, der sich mit den ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen beschäftigt. Ich habe einen Hintergrund in Philosophie und Ethik, habe in Philosophie promoviert und arbeite im Bereich Ethik genomischer Forschung.

Johanna Stegmann: Ich finde das Thema total spannend, weil es eine ganz andere Perspektive auf die Humangenetik gibt. Deshalb freue ich mich sehr auf unser Gespräch und vor allem über deinen Input als Ethiker. Heute starten wir mal anders als sonst: mit einem kleinen Rätsel. Und ihr, liebe Hörerinnen und Hörer, ihr könnt gerne mitraten. Ich stelle euch verschiedene Fälle vor und ihr entscheidet - ist das genetische Diskriminierung? Ja oder nein? Ein Mann bewirbt sich auf eine Stelle im Projektmanagement. Sein potentieller Arbeitgeber erfährt dann über einen genetischen Test, dass er eine Veranlagung für die Erbkrankheit Morbus Pompe hat. Und diese Erbkrankheit, die könnte möglicherweise in ein paar Jahren zu Arbeitsausfällen führen. Obwohl die Person aktuell völlig gesund und bestens qualifiziert ist, bekommt sie eine Absage. Was meinst du, Andreas, und was denkt ihr liebe Hörerinnen und Hörer - ist das genetische Diskriminierung?

Dr. Andreas Bruns: Ja, das ist ein paradigmatischer Fall von genetischer Diskriminierung würde ich sagen. Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung oder Benachteiligung einer Person auf der Grundlage von genetischen Merkmalen oder angenommenen genetischen Merkmalen der Person. Und in diesem Fall ist das eben eine genetische Veranlagung, zu einer bestimmten vererbbaren Krankheit.

Johanna Stegmann: Ich habe einen weiteren Fall mitgebracht. Eine Frau raucht täglich mehrere Schachteln Zigaretten. Das Versicherungsunternehmen bekommt davon Wind und erhöht daraufhin die Beiträge für ihre Lebensversicherung, mit der Begründung, dass sie nachweislich ein erhöhtes Risiko für Krankheiten wie Lungenkrebs hat. Was meint ihr? Ist das genetische Diskriminierung?

Dr. Andreas Bruns: Das wäre den gängigen Definitionen nach keine genetische Diskriminierung, weil es hier nicht um genetische Merkmale geht, sondern um den Lebensstil einer Person. Das ist natürlich eine schwierige Frage. Da kann man drüber reden. Es gibt Leute, die meinen, dass der Lebensstil von Menschen einen Einfluss darauf haben sollte, wie viel sie bei Versicherungen zahlen sollten, wenn ich zum Beispiel rauche. Es gibt ja Leute, die sagen, dann sollte ich auch mehr zahlen in der sozialen Krankenversicherung zum Beispiel. Dann gibts natürlich andere Leute, die sagen würden, das ist nicht fair, dann mehr zu zahlen, weil man muss sich ja immer auch anschauen, wie wird eigentlich jemand zum Raucher. Das hat historische, familiäre Gründe und so weiter. Ist es wirklich fair, diese Leute dann stärker zu Kasse zu bitten? Da kann man natürlich drüber diskutieren. Aber es ist auf jeden Fall erstmal kein Fall von genetischer Diskriminierung.

Johanna Stegmann: Und der letzte Fall: eine Frau berichtet davon, dass ihr eine Lebensversicherung verweigert wurde, und die Versicherung, die hatte auf die Gesundheitsdaten ihres verstorbenen Vaters zugegriffen. Der ist gestorben an einer Darmkrebserkrankung, und die Versicherung hat dann daraus geschlossen, dass auch die Frau ein erhöhtes Risiko haben könnte, an Darmkrebs zu erkranken. War das, was ihr hier passiert ist, genetische Diskriminierung?

Dr. Andreas Bruns: Das wäre ein anderer paradigmatischer Fall von genetischer Diskriminierung, würde ich sagen, den man auch so in der Literatur immer wieder liest. Weil eben bei der Bewerbung benachteiligt wird auf Grundlage von einer genetischen Veranlagung.

Johanna Stegmann: Vielen Dank fürs Mitmachen. Ich glaube, jetzt wird schon ein bisschen klarer, worum es geht bei der genetischen Diskriminierung. Aber Andreas, wenn wir noch mal von vorne anfangen. Wie würdest du den Begriff genetische Diskriminierung eigentlich genau definieren?

Dr. Andreas Bruns: Das ist keine ganz einfache Frage. Weil genetische Diskriminierung, wie der Begriff ja nahelegt, dabei geht es um eine spezielle Form von Diskriminierung. Also ist ja die erste Frage: Was ist eigentlich Diskriminierung? Und da würde ich sagen, mit Diskriminierung meinen wir in der Regel eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung oder Benachteiligung einer Person auf der Grundlage von bestimmten Merkmalen, die diese Person hat. In der Regel schwingt da also schon moralisches Urteil mit, dass Diskriminierung eben moralisch falsch ist. Man muss vielleicht dazu sagen, dass es auch noch ein neutrales Konzept von Diskriminierung gibt, bei dem dieses Urteil nicht schon mitschwingt. Beispiel hierfür ist der Begriff positive Diskriminierung, oder auch positive action im Englischen. Das sind Maßnahmen, die insbesondere bei Jobbewerbungen zum Beispiel eingesetzt werden, um Gruppen zu bevorteilen, die historisch gesehen benachteiligt wurden. Zum Beispiel, wenn es bei einer Stellenausschreibung heißt, bei gleicher Qualifikation werden Bewerbungen von Frauen oder von Minderheitengruppen bevorzugt behandelt. Und in diesem Fall schwingt natürlich das moralische Urteil, dass das falsch ist, nicht schon mit. Weil die Idee ist, dass das was Gutes ist, dass das bestehende Ungleichheiten ausgleicht. Also in dem Fall wird der Begriff Diskriminierung nicht negativ benutzt. Es gibt diesen moralisch-neutralen Begriff von Diskriminierung im Deutschen auch noch weniger vielleicht als in anderen Sprachen. Im Englischen zum Beispiel, to discriminate benutzt man auch synonym mit to distinguish. Also einfach eine Unterscheidung machen. Da schwingt ja erstmal kein negatives Urteil mit. In dem Begriff Diskriminierung steckt nicht notwendigerweise schon drin, dass es falsch ist oder moralisch falsch ist, denn positive Diskriminierung ist ja zum Beispiel nicht moralisch falsch. Positive Diskriminierung wäre ein Widerspruch in sich, wenn Diskriminierung immer falsch wäre. Aber in der Regel, wenn man Diskriminierung sagt, dann meint man, dass das eine ungerechtfertigte Benachteiligung einer Person ist. Genau, und dann ist eben genetische Diskriminierung, vielleicht grob auch erstmal definiert, eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung oder Benachteiligung aufgrund von genetischen Merkmalen. Wie im ersten Beispiel auf Grundlage von einer genetischen Veranlagung zu einer bestimmten Krankheit.

Johanna Stegmann: Ist es dabei eigentlich relevant, ob eine Erkrankung schon ausgebrochen ist oder als genetische Veranlagung in der Person schlummert und möglicherweise erst in der Zukunft ausbrechen wird?

Dr. Andreas Bruns: Das ist eine sehr gute Frage, denn der Begriff wurde so eingeführt, dass er sich auf asymptomatische Individuen bezieht. Der Begriff wurde eingeführt von Paul Billings, Anfang der 90er Jahre, in dem Paper, das heißt discrimination as a consequence of genetic testing, und Billings ging es darum, eine bestimmte Befürchtung über neue genetische Wissenschaft zu äußern. Und zwar die Befürchtung, dass genetische Tests, die erlauben uns natürlich einerseits tiefere Einblicke in den zukünftigen Gesundheitszustand von Menschen und das ist gut, weil das für die Medizin gut sein kann. Auf der anderen Seite erlaubt uns das aber natürlich auch, dass diskriminierende Praktiken im Hinblick auf Krankheit, sich auf Individuen schon richten können, die noch gar keine Symptome haben. Und da hat Billings diese Kategorie der asymptomatic ill, also der asymptomatisch Kranken oder der gesunden Kranken eingeführt, um zu sagen, das ist die soziale Kategorie der Leute, bei denen das Risiko besteht, dass sie eben auf Grundlage von genetischer Veranlagung diskriminiert werden könnten. Also historisch gesehen, richtet sich der Begriff auf Leute, die nicht schon Symptome haben.

Johanna Stegmann: Zu Beginn dieser Folge haben wir ja schon über einige Bereiche gesprochen, in denen genetische Diskriminierung vorkommen kann. Zum Beispiel im Versicherungswesen oder im Job. Gibts denn noch weitere Bereiche oder Gruppen, die besonders betroffen sein können?

Dr. Andreas Bruns: Ja. Also das ist natürlich auch eine empirische Frage und hier gibts vor allem aus den USA, Kanada, Australien, Großbritannien Studien dazu, in welchen Bereichen genetische Diskriminierung eigentlich ein Problem ist. Wir haben jetzt schon über Arbeitsmarkt und Versicherungen gesprochen. Andere Bereiche, die da manchmal genannt werden, sind zum Beispiel Adoption. Dass Personen nicht zu Adoptionen zugelassen werden, weil sie bestimmte genetische Veranlagung haben. Militärdienst, im Sport, auch Kreditkartenanträge. Dokumentiert sind Fälle von genetischer Diskriminierung seit ungefähr den 70er Jahren.

Johanna Stegmann: Warum ist es denn so, dass ausgerechnet in diesen Ländern so viel Forschung betrieben wird?

Dr. Andreas Bruns: Das kann ich nur vermuten. Aber ich denke mal, das liegt an den unterschiedlichen Versicherungssystemen. In Deutschland gibt es sehr wenig empirische Studien zu genetischer Diskriminierung. Es gab 2011 mal ein Forschungsprojekt, genetische Diskriminierung in Deutschland hieß das glaub ich, an der Universität Hamburg. Aber in der Regel kommen die meisten Studien aus der englischsprachigen Welt. Insbesondere eben Nordamerika und Großbritannien und Australien.

Johanna Stegmann: Du hast in deiner Definition von genetischer Diskriminierung ja auch andere Formen von Diskriminierung angesprochen. Ich habe das Gefühl, dass sie sich ja oft gegenseitig beeinflussen. Deshalb stelle ich mir die Frage, ob man diese verschiedenen Formen überhaupt voneinander trennen sollte? Oder geht das nicht so gut, weil ja alles irgendwie zusammenhängt?

Dr. Andreas Bruns: Ich glaube eigentlich, und das ist auch eine Kritik, die viel aus den Kultur- und Sozialwissenschaften kommt, dass wir einen breiteren Begriff von genetischer Diskriminierung brauchen, der genetische Diskriminierung als Analysekonzept versteht und versucht zu schauen, wie kann eigentlich genetisches Wissen ein Faktor werden in den diskriminatorischen Praktiken, die wir eh schon haben. Historisch gesehen hat sich genetische Diskriminierung auf Krankheit und Behinderung vor allem gerichtet. Es gibt ja auch Diskriminierung von Menschen, die Krankheiten oder Behinderungen haben, außerhalb der Genetik. Wir brauchen ja keine genetischen Informationen für diese diskriminatorischen Praktiken, die existieren ja schon unabhängig davon. Genetik findet die Möglichkeit, dass diese Formen von Diskriminierung verlängert werden. Nämlich so, dass Individuen, die gar keine Symptome haben, Individuen, die noch gar nicht krank sind, oder bei denen eine Behinderung noch gar nicht vorliegt, dass die schon an diesen Formen von Diskriminierung leiden können. Es ist aber dann immer noch Diskriminierung gegen, oder auf Grundlage von Krankheit, auf Grundlage von Behinderung, aber bei asymptomatischen Individuen. Das ist eben das, was Paul Billings auch wichtig war, herauszustellen. Man könnte vielleicht sagen, Genetik verlängert hier den Arm von bestimmten Arten von Diskriminierung. Und dann ist es natürlich eine gute Frage, warum das auf Krankheit und Behinderung beschränkt sein sollte, und warum man nicht auch genetische Diskriminierung auf der Grundlage von zum Beispiel ethnischer Herkunft oder Gender haben könnte. Ich würde sagen in jedem Fall, in dem eine soziale Kategorie mit bestimmten genetischen Eigenschaften in Verbindung gebracht wird; ob das richtig ist oder nicht, oder ob das angemessen ist oder nicht, ist eine andere Frage. Aber sobald das in der Gesellschaft gemacht wird, kann dann auch genetische Diskriminierung, würde ich sagen, sich auf diese Art von Merkmal beziehen.

Johanna Stegmann: Wenn wir über Diskriminierung sprechen, lohnt es sich, einen Blick auf die Populationsgenetik zu werfen, denn sie kann zeigen, wie genetische Vielfalt in verschiedenen Populationen entstehen kann. Und genau dieses Wissen kann, je nachdem wie es interpretiert wird, entweder für medizinischen Fortschritt genutzt oder im schlimmsten Fall für diskriminierende Argumente missbraucht werden. Die Populationsgenetik untersucht, wie genetische Varianten innerhalb einer Gruppe verteilt sind und sich über die Zeit verändern. Es geht darum, warum bestimmte Varianten häufiger vorkommen, wie sich Populationen an ihre Umgebung anpassen und welche Rolle Faktoren, wie Mutation, Migration oder natürliche Selektion spielen. Dieses Wissen hilft uns, die Entstehung von Krankheiten zu erforschen, Evolution zu erklären oder genetische Anpassung an Umweltveränderungen besser zu verstehen. Aber es gibt auch eine Kehrseite - wenn genetische Informationen dazu genutzt werden, Vorurteile zu untermauern oder bestimmte Gruppen unfair zu behandeln. Andreas, du hast uns dazu ein Beispiel mitgebracht. Erzähl uns gerne mehr.

Dr. Andreas Bruns: Es gibt ein Gen, das MAOA-Gen, das auch manchmal als Kriegergen bezeichnet wurde und das assoziiert wurde, in bestimmten Arten von Forschung, mit erhöhter Gewaltbereitschaft und antisozialem Verhalten. Und es gab da diesen Fall in Neuseeland 2006, da haben Forschende eine Studie vorgelegt, wo Sie festgestellt haben wollten, dass es eine hohe Frequenz dieses Kriegergens in der indigenen Maori Population in Neuseeland gäbe und wollten dann auf dieser Grundlage erklären können, dass das zusammenhängt mit der hohen Kriminalitätsrate in dieser Population. Die Frage ist natürlich jetzt - ist das Diskriminierung? Also, wo ist da die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung? Ich würde sagen, es ist vielleicht eher eine Grundlage für diskriminatorische Praktiken. Also zum Beispiel, wenn man dann auf dieser Grundlage Maori Menschen ausschließt, von bestimmten Veranstaltungen, oder sowas, da passiert dann die Diskriminierung. Aber die Grundlage gelegt für diese Diskriminierung wird ja in dieser Art von genetischer Forschung.

Johanna Stegmann: Ich finde, dein Beispiel zeigt total gut, dass schon die Forschungsfrage an sich entscheidend ist.

Dr. Andreas Bruns: Es ist eine Art und Weise ohnehin schon bestehende, rassistische Überzeugung in einen objektiv-wissenschaftlichen Mantel zu kleiden. Und das ist natürlich auch keine neue Strategie, das kennt man ja aus der Geschichte der Rechtfertigung von kolonialistischen Verbrechen. Zum Beispiel Phrenologie, diese Pseudowissenschaft aus dem 19. Jahrhundert, wo die Idee war, dass man den Schädel messen kann und dadurch feststellen kann, was für Charaktereigenschaften jemand hat. Da kam ja auch immer raus, dass indigene Völker gewaltbereiter sind, dass die weniger moralische Werte haben und so weiter. Und dadurch wurden dann eben kolonialistische Verbrechen gerechtfertigt. Ein Problem ist, glaube ich, dass genetische Diskriminierung in der Gesetzgebung und im policy making oft auf diese traditionellen Bereiche wie eben Arbeitsmarkt, Versicherung und auf den Schutz von Individuen vor genetischer Diskriminierung begrenzt ist. Und ich glaube, solche Beispiele sind wichtig, weil sie zeigen, dass auch in der Forschung, in der Populationsgenetik, Potenzial besteht, dass genetische Wissenschaften anfangen, eine Rolle zu spielen in größeren diskriminatorischen Praktiken und anderen Arten von sozialen Ungerechtigkeiten.

Johanna Stegmann: Es gibt bestimmte Krankheiten, die in manchen Bevölkerungsgruppen häufiger vorkommen. Und solche genetischen Erkenntnisse können ja sehr wertvoll sein. Aber wie nutzt man sie sinnvoll, ohne gleichzeitig Vorurteile zu verstärken? Also, wie kann die Wissenschaft verhindern, dass Forschungsergebnisse für diskriminierende Argumente benutzt werden?

Dr. Andreas Bruns: Das ist natürlich eine wichtige Frage. Und ich glaube, am Ende geht es darum, dass Forschende einfach ein Bewusstsein dafür haben müssen, welche Konsequenzen, sozialen Konsequenzen, sich aus ihrer Forschung ergeben können und könnten. Und insbesondere auch aus der Art und Weise, wie die Forschung dargestellt und kommuniziert wird. Ich bin jetzt natürlich kein Genetiker, aber soweit ich das verstehe, ist es auch gar nicht so klar, dass es dieses Kriegergen gibt, oder dass es dieses Gen gibt, das wirklich mit erhöhter Gewaltbereitschaft und antisozialen Verhalten in Verbindung gebracht werden kann. Dann ist es natürlich so, selbst wenn die Wissenschaft dahinter korrekt oder annehmbar wäre, dann ist es natürlich so, dass es ganz viele Faktoren gibt. Das sind insbesondere soziale Faktoren, die eine Rolle bei der Kriminalitätsrate unter bestimmten Populationen spielen. Das sind soziale Faktoren wie Armut, Bildung, die ohnehin schon bestehende Ausgrenzung vom sozialen Leben und so weiter. Zu sagen, das hat genetische Gründe, dass die Kriminalität zu hoch ist, das ist, würde ich auch sagen, einfach schlechte Wissenschaft.

Johanna Stegmann: Man macht es sich ja auch ziemlich leicht, wenn man sagt, diese Genveränderung führt zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft bei den Maori. Dann muss man nämlich nichts am System selbst ändern, also nicht an der sozialen Ungleichheit, nicht an der Bildungsgerechtigkeit. Man zieht sich aus der Affäre und sagt einfach so ist es eben, da kann man nichts machen.

Dr. Andreas Bruns: Genau. Also es kann halt auch als eine Art von Verblendungsstrategie verstanden werden, ja. Eigentlich geht es ja darum, bestehende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten auszugleichen und so weiter. Und diese Art von genetischem Determinismus, der einfach sagt, das ist in den Genen, der ist natürlich sehr gefährlich in dieser Hinsicht.

Johanna Stegmann: Andreas, du hast uns ja noch ein weiteres Beispiel mitgebracht. Es geht um die Havasupai.

Dr. Andreas Bruns: Die Havasupai sind eine indigene Gruppe in Arizona in den USA. Eine sehr kleine Gruppe, die aber international sehr bekannt geworden ist, durch diesen Fall. 2003, da haben Mitglieder der Havasupai Gruppe ihre DNA für eine Diabetesstudie zur Verfügung gestellt. Diabetes ist ein relevantes Problem auch in dieser Gruppe gewesen, deswegen hatten die ja auch ein Interesse daran, dass da Forschung betrieben wird. Und 2003 kam dann eben raus, dass die Daten nicht nur für diese Studie, sondern auch für andere Studien, und insbesondere auch für Studien genutzt wurden, die die genetische Herkunft der Havasupai untersucht haben und die festgestellt haben wollten, dass die Havasupai, genetisch gesehen, nicht daherkommen, wo sie sagen, dass sie herkommen. Also aus Arizona. Und das ist eben deswegen ein ähnliches Beispiel, weil, es gibt eine Geschichte von kolonialistischen Verbrechen, wo Kolonialmächte versucht haben, indigene Gruppen von ihrem Land zu verdrängen, und eben auch gerne Wissenschaft, oder Pseudowissenschaft oder wissenschaftliche Ergebnisse genutzt haben, um das zu untermauern. Und hier in diesem Fall ist es genauso, dass die Havasupai und auch andere indigene Gruppen in den USA, sofort befürchtet haben, das ist genau die Art von Wissenschaft, die eben die Regierung nutzen könnte, um uns von unserem Land zu vertreiben. Und wieder ist hier natürlich die Frage - ist das Diskriminierung? Vielleicht nicht unbedingt. Aber es ist eine Art von sozialer Ungerechtigkeit, die mit Unterdrückung oder mit Ausgrenzung und so weit weiter zu tun hat. Und die vielleicht auch diskriminatorische Praktiken begünstigen kann. Das ist eben ein Beispiel, in dem es um ethnische Herkunft geht.

Johanna Stegmann: Sag mal, weißt du wie das war? Haben sie damals unterzeichnet, dass ihre genetischen Daten nur zur Untersuchung auf diesen genetisch bedingten Diabetes verwendet werden dürfen?

Dr. Andreas Bruns: Einwilligung hatten die Havasupai Mitglieder gegeben in diese Diabetesstudie, aber eben nicht in diese anderen Studien. Sie wussten auch nicht, dass diese genetischen Herkunfts-Studien durchgeführt werden würden. Das ist natürlich auch ein Problem, dass es um fehlende Einwilligung geht. Aber es ist nicht das einzige Problem. Hier sieht man auch die Grenzen von Einwilligung. Die einzelnen Mitglieder sind nicht alleine betroffen, sondern es betrifft die ganze Gruppe. Also ist auch die Frage natürlich, wie weit ist Einwilligung hier überhaupt das relevante Konstrukt? Und dieser Fall ist eben deswegen auch so bekannt geworden, weil es der Fall ist, der die Navajo Nation veranlasst hat, genetische Forschung mit Mitgliedern der Navajo Nation zu untersagen. Zumindest außerhalb des Territoriums der Navajo Nation. Und da sieht man eben, dass diese begründeten Sorgen dieser Gruppen, sich fortziehen auch in die postkolonialistische Zeit.

Johanna Stegmann: Ich finde deine Beispiele total spannend, weil sie auch eine etwas andere Art der Diskriminierung zeigen. Weil es eben nicht nur um eine einzelne Person geht, sondern um eine ganze Gruppe. Man kann also betroffen sein, einfach nur weil man dieser Gruppe angehört, selbst wenn man gar keine eigenen genetischen Daten zur Verfügung gestellt hat.

Dr. Andreas Bruns: Das ist einer der wichtigen Punkte, dass genetische Diskriminierung sich eben nicht nur auf Individuen, sondern auch auf Gruppen beziehen kann.

Johanna Stegmann: Ein Punkt, der hier mit reinspielt, sind doch auch Gebietsansprüche oder? Also dass Menschen, aufgrund der genetischen Untersuchung, kein Anrecht mehr auf ein bestimmtes Gebiet haben. Weil die Tests nahelegen, dass sie ursprünglich nicht von dort stammen.

Dr. Andreas Bruns: Ja. Und ich meine auch hier ist natürlich wieder die Frage, welche Rolle spielt das eigentlich, welche Relevanz hat es? Das ist ja auch möglich, dass sie, genetisch gesehen, nicht daherkommen. Das ändert aber nichts daran, dass sie seit, ich weiß nicht, fast 1000 Jahren, in dem Gebiet gelebt haben und, dass es trotzdem irgendwie ungerecht wäre, die zu verdrängen. Wieder kann man das auch als eine Art von Verblendungsstrategie verstehen.

Johanna Stegmann: Gleichzeitig ist es doch auch schwierig, wenn als Reaktion darauf, die genetischen Untersuchungen komplett abgelehnt werden. Wie es bei der Navajo Nation ja der Fall ist. Ich kann es total nachvollziehen, aber gleichzeitig erreicht man damit ja das genaue Gegenteil, weil genetische Untersuchung ja nicht nur Risiken mit sich bringen, sondern auch ein enormes Potenzial, um Menschenleben zu verbessern oder sogar zu retten.

Dr. Andreas Bruns: Du hast völlig recht. Es zeigt, wie unglaublich wichtig es ist vorsichtig zu sein. Und wirklich zu versuchen, den Missbrauch zu verhindern und auch die Sorgen dieser Gruppen ernst zu nehmen, weil wenn es dann dazu führt, dass gar keine genetische Forschung betrieben wird mit den Daten von Mitgliedern dieser Gruppen. Dann heißt das natürlich auch, dass die Medizin, die genetische Medizin, Präzisionsmedizin, und so weiter für diese Gruppen nicht so gut sein kann, wie eben für andere Gruppen. Deswegen ist es so wichtig, da vorsichtig mit umzugehen. Es ist wichtig, dass der Zweck der Forschung klar definiert ist, dass es auch vermieden wird, dass irgendwie andere Zwecke mit reinkommen, und generell einfach den ethischen Umgang mit Daten und genetischen Informationen zu verbessern.

Johanna Stegmann: Ja. Wenn ich das so höre, dann denke ich mir aber schon, wäre es nicht das Beste, meine genetischen Daten überhaupt nicht zur Verfügung zu stellen?

Dr. Andreas Bruns: Ich glaube es ist ganz normal, wenn man sich mit den negativen Konsequenzen von der Praktik beschäftigt, dass dann diese negativen Konsequenzen auch sehr groß erscheinen und sehr viel Raum einnehmen. Es ist natürlich aber trotzdem so, dass genetische Forschung, genetische Medizin insgesamt, einen sehr großen Nutzen hat für die Gesellschaft. Und das uns jetzt nicht verleiten sollte, gar keine genetische Forschung zu betreiben oder unsere genetischen Informationen für die Forschung nicht herzugeben. Es ist nur wichtig, über diese Themen zu sprechen, um genau zu sehen, was ist eigentlich das Problem und wie kann man das Problem effektiv durch Gesetze und policies adressieren. Und es ist natürlich auch so, dass auch nicht jede Nutzung von genetischen Informationen, die zu einer Ungleichbehandlung von Leuten führt, problematisch ist. Wenn wir jetzt zum Beispiel über Präzisionsmedizin reden. Die ganze Idee davon ist ja, dass man durch genetische Informationen besser verstehen kann, wie kann die Behandlung auch auf die spezifische Situation dieser Patientin zugeschnitten werden. Da wird ja zum Beispiel genetische Informationen benutzt, um die Leute unterschiedlich zu behandeln, aber auf eine sehr gute Weise, weil das im besten Interesse jeder Patientin und jedes Patienten passiert. Wir müssen über diese Themen, diese negativen Beispiele und so weiter, so viel reden, um zu verstehen, was kann man tun, damit die Risiken minimiert werden können.

Johanna Stegmann: Das heißt, wenn ich in Deutschland einen genetischen Test machen lasse, hat meine Krankenversicherung darauf keinen Zugriff?

Dr. Andreas Bruns: Wenn wir jetzt mal nur über den deutschen Kontext reden. Ich muss keine begründete Angst davor haben, dass meine genetischen Daten gegen mich verwendet werden, von der Versicherung zum Beispiel, wenn ich einen genetischen Test mache. Weil das gesetzlich klar verboten ist, dass Versicherungen das machen. Also solche Dinge sind schon ganz gut geregelt würde ich sagen.

Johanna Stegmann: Dann würden meine eingangs genannten Beispiele in Deutschland also so gar nicht funktionieren oder?

Dr. Andreas Bruns: Nein. Es gibt in Deutschland dieses Gendiagnostikgesetz, seit 2010, das zum erklärten Ziel hat, Benachteiligung und Diskriminierung aufgrund genetischer Eigenschaften zu verhindern. Und dieses Gesetz besagt insbesondere, dass Arbeitgeber und Versicherer, auch nicht nur Krankenversicherer, die dürfen weder die Durchführung genetischer Untersuchung verlangen, noch dürfen die bereits vorliegende Ergebnisse einfordern. Das heißt, gesetzlich ist es klar geregelt, dass mir kein Job verwehrt werden darf nur weil es einen genetischen Test gibt, der sagt, dass ich eine bestimmte Veranlagung habe.

Johanna Stegmann: Das bedeutet dann aber im Umkehrschluss, dass ich immer Beweise brauche, wenn ich den Verdacht habe, genetisch diskriminiert worden zu sein. Und diese Beweise zu erbringen, stelle ich mir manchmal gar nicht so einfach vor.

Dr. Andreas Bruns: Also ich glaube es gibt da verschiedene Probleme. Ein Problem ist, das überhaupt nachzuweisen, dass das der Grund ist. Gerade bei Jobbewerbungen. Wenn man eine Kandidatin bevorzugt, dann ist es wahrscheinlich oft möglich, dass irgendwie zu argumentieren und irgendwie zu belegen und nicht offenzulegen, dass man das aus diskriminatorischen Gründen macht. Aber es ist natürlich trotzdem dann so, dass die Person, die das Gefühl hat, diskriminiert worden zu sein. Sie kann natürlich verlangen, dass der Fall offengelegt wird und dass der Fall diskutiert wird. Womöglich kommt dann ja eben auch raus, dass es doch diskriminierend war.

Johanna Stegmann: Wir haben ja schon über die Studie der Uni Hamburg und Uni Frankfurt zum Thema genetische Diskriminierung in Deutschland gesprochen. Und ich bin da auf einen Fall gestoßen, den ich ganz spannend finde. Da wird von einer Frau berichtet, die eine Unfallversicherung abschließen wollte. Und da war eine Zusatzklausel mit beinhaltet, die im Fall einer gynäkologischen Erkrankung eine Auszahlung vorsieht. Als sie im Antrag dann aber die Frage nach Brustkrebs in der Familie ehrlich mit ja beantwortete, wurde ihr diese Klausel verweigert. Dabei war sie selbst völlig gesund. Und sie fühlte sich vorverurteilt aufgrund ihrer familiären Vorgeschichte.

Dr. Andreas Bruns: Das ist ein interessantes Beispiel, weil das Gendiagnostikgesetz, und auch andere Gesetze in anderen Ländern, die richten sich häufig nur auf genetische Tests. Aber es ist natürlich auch so, genetische Informationen können auch auf andere Weise aufkommen. Das ist ja nicht immer durch einen genetischen Test. In diesem Fall zum Beispiel einfach durch die Familiengeschichte. Es gibt auch einen Fall, an den mich das jetzt erinnert hat, ich glaube das ist 2007 oder 2008 oder so gewesen, vor dem Oberlandesgericht Hamm. Da hat eine Frau, die schon in ihrer Kindheit ein Bluttest gemacht hat, bei dem festgestellt wurde, dass sie eine genetische Veranlagung für Thalassämie hat, das ist so eine Erkrankung des roten Blutfarbstoffs, die letztlich zu einer Blutarmut führt. Und da wurde aber auch festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung bei ihr sehr gering ist, und dass deswegen nicht behandlungsbedürftig ist. Das ist alles in der Kindheit passiert. Und als sie dann Erwachsen war, hat ihre Krankenversicherung dieses Testergebnis, dass ja kein genetischer Test ist, sondern einfach ein normaler diagnostischer Test, dann genutzt, um die Frau vor die Wahl zu stellen, zu sagen, okay, entweder sie zahlen wesentlich erhöhten Beitrag oder sie verlieren den Versicherungsschutz. Und der Punkt hier ist eben, erstmal konnte die Krankenkasse das Ergebnis auf legalem Wege heranziehen, weil es ja sich nicht um das Ergebnis von dem genetischen Test handelt. Das heißt, er wurde vom Gendiagnostikgesetz nicht abgedeckt. Aber es ist natürlich genau der gleiche Fall. Es ist eigentlich klar - hier wird genetische Information, oder auch eine angenommene genetische Information, genutzt, um diese Person anders zu behandeln. Und das Oberlandesgericht Hamm hat das dann natürlich auch korrigiert und hat gesagt, dass ist eine Form von genetischer Diskriminierung. Aber das zeigt eine Lücke in der Gesetzgebung auf, weil sie halt so stark auf genetische Tests beschränkt ist. Und das ist, würde ich sagen, das Gleiche, was auch in deinem Beispiel passiert.

Johanna Stegmann: Braucht es dann oft auch erst einen Präzedenzfall, damit etwas passiert?

Dr. Andreas Bruns: Genau. Deswegen ist es so wichtig, da auch empirische Studien dazu zuhaben, um zu verstehen, wie sieht das Phänomen genetischer Diskriminierung in der Praxis aus? Wie kann das passieren? Damit man dann besser verstehen kann, wie die Gesetzgebung aussehen muss. Und ich glaube, wir haben ja über diese Uni-Hamburg-Studie jetzt schon mehrfach gesprochen. Die haben auch rausgestellt, was ein interessanter Punkt ist, dass es, wie sie es nennen, eine paradoxe Rechtslage gibt. Weil zum einen, diese Schutzrechte gibt es ja schon, die sind schon installiert. Aber auf der anderen Seite ist die Realität der Schutzbedürftigkeit gar nicht ganz klar. Und das kreiert eben diese Situation, wo es einerseits so aussieht, als wäre man vor genetischer Diskriminierung sicher, auf der anderen Seite gibt es aber diese praktischen Beispiele, in denen man das erstmal nicht ist und dann vor Gericht gehen muss.

Johanna Stegmann: Es ist eigentlich Work in Progress, oder? Die Gesetze müssen immer angepasst werden.

Dr. Andreas Bruns: Ja. Das ist glaube ich auch immer so. Und auch nicht nur für Gesetze, sondern für alle Arten von Regelungen. Ich glaube auch, gerade ein Phänomen, wie genetische Diskriminierung, da kann man auch nur so weit kommen mit Gesetzen. Da muss auch mit Soft Law mehr gearbeitet werden, also mit policies. Weil, wie du wie du ja am Anfang auch schon gesagt hast, es sehr sehr schwer ist, diese vielen Facetten des Problems alle mit Gesetzen abzudecken. Gesetze müssen immer sehr spezifisch sein und sich auf spezifische Definitionen und spezifische Fälle richten können. Und eine andere Sache ist natürlich, dass sich auch die genetische Forschung ständig weiterentwickelt, dass es neue Bereiche gibt, epigenetische Forschung zum Beispiel, bei denen es dann auch gar nicht so absehbar ist, was für Implikationen das für genetische Diskriminierung haben kann in der näheren Zukunft.

Johanna Stegmann: Hast du den Eindruck, dass das Gendiagnostikgesetz ausreicht, um Menschen in Deutschland wirklich vor genetische Diskriminierung zu schützen?

Dr. Andreas Bruns: Jein. Ich würde sagen, es gibt da auf jeden Fall Bedarf für diese Anpassung. Zum Beispiel der starke Fokus auf genetische Tests. Und ich glaube auch, dass der Fokus vielleicht zu stark ist da drauf, wie die genetischen Informationen gewonnen werden. Eben durch genetische Tests. Eigentlich geht es ja eher darum, wie werden die genetischen Informationen genutzt und von wem. Es gibt da diesen nicht ganz hilfreichen Fokus, der natürlich historisch erklärbar ist. Der Präzedenzfall von genetischer Diskriminierung ist, es wird ein genetischer Test gemacht. Auf der Grundlage wird die getestete Person benachteiligt, auf dem Arbeitsmarkt oder in Versicherung, das ist der Präzedenzfall. Deswegen ist es erklärbar, warum die Rechtslage ist, wie sie ist.

Johanna Stegmann: Wir haben ja viel über Deutschland gesprochen und wie hier die gesetzlichen Regelungen sind. Mich würde jetzt ein Blick über den Tellerrand interessieren. Wie sieht das in anderen Ländern aus? Gibt es Länder, die einen anderen Umgang mit genetischen Daten haben und die du aus ethischer Perspektive besonders positiv siehst?

Dr. Andreas Bruns: Im Umgang mit genetischen Daten sind ja die skandinavischen Länder oft Vorreiter, wie Finnland zum Beispiel, wo es diese nationalen Ansätze gibt, ein Archiv zu haben und die Daten zu nutzen für die Forschung, aber unter sehr klaren Bestimmungen und mit der Möglichkeit eines Opt-Outs, also zu widersprechen. Was vielleicht noch interessant ist, auch für die Leute, die den Podcast hören, es gibt dieses Genetic Discrimination Observatory. Das ist ein Zusammenschluss von Forschenden, Policymakern, Rechtsexperten und so weiter, Ethikern, die sich für das Thema genetische Diskriminierung interessieren und für die Frage, wie man genetische Diskriminierung als globales Problem besser angehen kann. Und die haben eine Website, auf der es auch so eine interaktive Karte gibt, wo man auf der Welt sehen kann, welche Länder haben welche Gesetze, die gegen genetische Diskriminierung gehen oder Policies oder andere Arten von Regelungen, Deklarationen unterschrieben und so weiter. Das ist ganz interessant, um zu verstehen, welche Ansätze gibt es global, um das Problem genetische Diskriminierung anzugehen. Die haben auch, was ich auch interessant finde, so ein Formular, das man ausfüllen kann, wenn man glaubt, dass man genetische Diskriminierung erfahren hat. Dann kann man da einen Report ausfüllen und diese Reports werden dann ausgewertet und Daten darüber gesammelt, und Fälle gesammelt und so weiter. Was ja sehr wichtig und sehr hilfreich ist, um das Phänomen genetische Diskriminierung global besser zu verstehen. Ich glaube, um noch mal auf die Frage zurückzukommen, es ist gar nicht so sehr die Frage, welche Nationen den besten Ansatz haben, weil es wirklich ein globales Problem ist. Auch in der Art und Weise, wie genetische Daten immer stärker über Landesgrenzen hinaus geteilt, immer stärker global international geteilt und genutzt werden. Es ist ein Problem, dass man wirklich auch auf einer globalen Ebene angehen muss.

Johanna Stegmann: Ja. Die Seite, die klingt total spannend. Ich pack sie euch auf jeden Fall in die Show Notes. Was mich noch interessiert, wenn wir das ganze global betrachten, dann stellt sich ja auch die Frage, was überhaupt als Diskriminierung gilt. Das kann ja, je nach Land und kulturellen Blickwinkel, ganz unterschiedlich verstanden werden, oder?

Dr. Andreas Bruns: Ja. Ich glaube, das ist ein auch ein generelles Problem, dass noch mal irgendwie ein neues Fass aufmacht, weil da kommt man dann natürlich dahin, darüber zu reden, sind wir einfach Leute, die unsere westlichen Werte anderen Teilen der Welt aufdrängen wollen, oder sind das Werte, die universell sind und dass es okay ist. Ich bin da eher auf der Seite: Menschenrechte zum Beispiel, dass das universelle Werte sind, auf die sich jeder weltweit berufen können sollte. Der reine Fakt, dass Menschenrechte nicht immer respektiert werden, gibt ja keinen Aufschluss darüber, ob sie gültig sind oder nicht. Ich kann ja ein Recht verletzen aber das Recht ist trotzdem gültig. Das ist vollkommen unabhängig, würde ich sagen, von der Gültigkeit. Und ob die Leute tatsächlich dieses Recht wahren oder nicht, und auch ob das Recht kodifiziert ist in einem bestimmten Land, in Rechtsdokumenten oder so. Man sieht ja auch, dass Leute in Ländern, in denen die Menschenrechte nicht anerkannt werden, sich auf Menschenrechte berufen. Daran sieht man ja auch, dass die Menschenrechte die Tendenz haben, sich selbst zu globalisieren. Weil es einfach auch Sinn macht, dass es diese Rechte gibt, und dass die unveräußerlich sind. Das, was man glaube ich noch sagen kann zu dem Thema, Verständnisse von Diskriminierung sind relativ. Was natürlich zu einem gewissen Grad relativ ist, ist die Frage, auf Grundlage welcher Merkmale es eigentlich möglich ist, Leute zu diskriminieren. Das ist historisch gewachsen, das ist kulturell gewachsen, es ist zum Beispiel offensichtlich möglich in unserer Gesellschaft, gegen Frauen zu diskriminieren aber es ist schon eher eine Frage, ist Diskriminierung gegen Männer etwas? Zumindest ist es nicht im gleichen Maße ein Problem. Und dann natürlich körperliche Merkmale. Man kann nicht diskriminieren gegen Leute, die knubbelige Knie haben, oder so, weil das einfach nicht eines der historisch gewachsenen Merkmale ist, von diskriminatorischen Praktiken. Die sind historisch gewachsen und das ist natürlich von kulturellen und gesellschaftlichen Umständen abhängig. Und die können sich unterscheiden, in unterschiedlichen Kulturen der Welt, und das ist natürlich ein Problem, wenn man genetische Diskriminierung global angehen will.

Johanna Stegmann: Was würdest du denn sagen, wenn wir künftige Diskussionen anschauen, welche ethischen Prinzipien sollte es dort geben oder sollten wir berücksichtigen, wenn es um die genetische Testung geht bzw. der Nutzung?

Dr. Andreas Bruns: Es gibt da verschiedene Grundprinzipien. Eins ist natürlich Einwilligung oder, es muss nicht unbedingt eine explizite Einwilligung sein, aber dass die Leute, deren Daten benutzt werden, dem irgendwie zustimmen, es nicht gegen ihren Willen passiert. Jeder, der genetische Daten der Forschung zur Verfügung stellt, leistet damit einen wirklich wichtigen Beitrag für die Gesamtgesellschaft. Und das sollte auch niemals zum Nachteil dieser Person sein. Das zum Beispiel ist auch das Grundprinzip, das genetische Diskriminierung ausschließt.

Johanna Stegmann: Damit sind wir am Ende dieser Folge angekommen. Wir haben heute darüber gesprochen, wie genetische Information einerseits große Chancen für die Medizin bieten, andererseits aber auch dazu genutzt werden können, Menschen oder Gruppen zu benachteiligen. Genetische Diskriminierung ist ein Thema, das noch nicht so oft im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion steht und gleichzeitig viele ethische Fragen aufwirft. Besonders spannend ist, dass sich diese Diskussion ständig weiterentwickelt. Je mehr wir über das menschliche Genom erfahren, desto mehr müssen wir auch darüber nachdenken, wie mit diesen Informationen umgegangen wird. Der Schutz vor genetischer Diskriminierung muss also immer mit dem aktuellen Forschungs- und Entwicklungsstand Schritt halten. Danke an Andreas Bruns für die spannenden Einblicke und die wichtige Diskussion. Wenn euch das Thema interessiert, schaut gerne in die Show Notes. Dort findet ihr weitere Links. Lasst uns auch gerne eine Bewertung da oder schreibt uns euer Feedback. Was denkt ihr zu dem Thema? Habt ihr Fragen? Oder vielleicht sogar eigene Erfahrungen? Schreibt uns. Wir freuen uns auf den Austausch! Bis zum nächsten Mal!

Über diesen Podcast

Der Code des Lebens – der Wissenschaftspodcast von GHGA beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der menschliche Genomforschung. Obwohl wir 99% unseres Erbgutes (=unserer Gene) miteinander teilen, machen die kleinen Unterschiede uns zu dem was wir sind. Doch wie ist unser Erbgut eigentlich entstanden? Wie funktioniert Genomforschung und wie beeinflussen unsere Gene unser tägliches Leben? Diesen Fragen und mehr geht “Der Code des Lebens” auf den Grund. Zuhörende benötigen kein spezielles Vorwissen um in die faszinierende Welt der Gene einzutauchen.

Dieser Podcast wird präsentiert von GHGA – dem deutschen Humangenom-Phenom Archiv. Wir entwickeln eine Infrastruktur, in welcher humane Genomdaten sicher gespeichert und kontrolliert für die biomedizinische Forschung zugänglich gemacht werden können. Das Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und ist Teil der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI).

Podcastlizenz: CC-BY

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